Archiv der Kategorie: Nordamerika

Lincoln im Bardo von George Saunders

„Es ist schwer, so schwer, ihn gehen zu lassen!“ (Seite 64)

Willie Lincoln, der dritte Sohn des Präsidenten Abraham Lincoln, starb am 20. Februar 1862 im Alter von 11 Jahren an Typhus.

In der Nacht nach der Beerdigung auf dem Oak Hill Cemetery in Georgetown kehrt der trauernde Präsident zurück auf den Friedhof, betritt die Gruft und öffnet den Sarg, um den geliebten Sohn ein letztes Mal im Arm zu halten.

Willie befindet sich im Bardo, laut tibetanischer Lehre das Reich zwischen Diesseits und Jenseits, und mit dem Besuch des Vaters auf dem Friedhof erwachen die Geister der Toten, der Geschichte und der Literatur und sprechen miteinander über den Vater, den Sohn, die Krankheit, den Tod, das Nicht-Verstehen des tragischen Verlusts eines wichtigen Menschen, die Liebe. Lincoln im Bardo von George Saunders weiterlesen

Auf der Suche nach Moby Dick. Graphic Novel nach Herman Melville von Isaac Wens und Sylvain Venayre

„Es gibt zwei Arten, etwas über eine Orange zu erfahren. Man kann ihre Oberfläche untersuchen, minutiös, Millimeter für Millimeter. Danach weiß man etwas über die Orange. Man kann aber auch ein Loch in die Schale bohren und bis ins Innere der Frucht vordringen. Auch so lernt man etwas über die Orange.“ (Seite 23f)

Moby Dick erschien erstmals 1851 in London und New York, und ich kenne den Roman als Hörbuch, das ich vor ein paar Jahren gehört habe. Richtige Freunde sind Herman Melville und ich nicht geworden, ich glaube, ich fand den Roman damals einfach zu weitschweifig, obgleich er auch sehr spannende Passagen hat.

Nun habe ich die Graphic Novel gelesen, und entgegen meiner Erwartung entspricht das Buch nicht ganz der bekannten Geschichte, sondern geht darüber hinaus: In Paris trifft ein junger Journalist einen Experten für Melvilles Werk, und gemeinsam erkunden sie nicht nur die bekannte Geschichte um Kapitän Ahab und seine Jagd auf den Wal, sondern sie lassen den Leser auch an weiterführenden Informationen teilhaben, z.B. an den Hintergründen der Veröffentlichung und an kulturgeschichtlichen Besonderheiten zur Entstehungszeit des Romans.

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Der letzte Satz von Robert Seethaler

„Er dachte an die Musik. In der Dunkelheit konnte er ihre Anwesenheit fühlen, als sei sie ein Lebewesen, das atmete und dessen gewichtsloser Körper sich immer weiter ausdehnte, bis er das ganze Zimmer auszufüllen schien.“ (Seite 14)

Gustav Mahler befindet sich an Bord der Amerika und kehrt nach einem längeren Aufenthalt in New York zurück nach Europa. Mahler, der zeit seines Lebens kränklich war und von diversen körperliche Erkrankungen gequält wurde, wird immer schwächer und spürt seinen nahenden Tod.

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Hiroshima. Atompilz über Japan. Eine Hördokumentation von David Bernet (Hörbuch)

„Es ist eine essentielle und notwendige Wahrheit, dass die großen Dinge in der Wissenschaft nicht erfunden wurden, weil sie nützlich sind. Sie wurden erfunden, weil es möglich war.“ (Robert Oppenheimer)

Manchmal bringt mich ein Hörbuch so durcheinander, trifft mich mit solcher Wucht, dass ich es gleich zwei Mal in Folge höre, und so war das auch bei Hiroshima. Atompilz über Japan, was durch die Kürze des Hörbuchs zudem vollkommen problemlos möglich ist.

Atompilz von „Little Boy“ über Hiroshima (6. August 1945), Quelle: Wikipedia.

Die Hördokumentation erzählt nicht nur vom 6. August 1945, als „Little Boy“ über der japanischen Stadt Hiroshima abgeworfen wurde, sondern auch vom Manhattan-Projekt und vom Pazifikkrieg sowie von der Kapitulation Japans, von direkten Folgen, verzögert auftretenden und Langzeit-Schäden des Abwurfs der Atombombe.

Die Enola Gay, Quelle: Wikipedia.
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Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer von Alex Capus

„[…] weil jede vernünftige Reise in möglichst gerader Linie vom Ausgangspunkt zum Ziel führt und zwei Geraden sich nach den Gesetzen der Geometrie nicht zweimal kreuzen.“

Die 13-jährige Laura d’Oriano befindet sich im Orient-Express auf der Strecke Konstantinopel – Paris. Ihre Familie hat das Nomadenleben aufgegeben und möchte nun sesshaft werden. Laura hat einen Traum, den sie unbedingt verwirklichen möchte: Sie will Sängerin werden.

Ein junger Mann sitzt am Züricher Bahnhof, er weiß nicht, was die Zukunft bringt, hat seinen Weg noch nicht gefunden. Im späteren Leben wird er, Felix Bloch, Atomphysik bei Heisenberg studieren und Oppenheimer beim Bau der Atombombe helfen.

Ein Schnellzug nach Genf: Der Kunstmaler Emile Gilliéron trägt die Asche seines kürzlich verstorbenen Vaters an den Genfersee, die alte Heimat der Familie. Emile wird später als einer der größten Fälscher in die Geschichte eingehen.

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Hausbrand von Kamila Shamsie

„Ich erzähle niemandem von dir; du erzählst niemandem von mir. Wir sind des anderen Geheimnis.“ (Seite 80)

Nach dem Tod ihrer Mutter und ihrer Großmutter hat sich Isma um ihre beiden jüngeren Geschwister, die Zwillinge Aneeka und Parvaiz, gekümmert, doch als diese alt genug sind, um auf eigenen Füßen zu stehen, geht Isma in die USA, um an einem Promotionsstudiengang in Soziologie teilzunehmen.

Dass Isma problemlos in die USA einreisen kann, kommt einem Wunder gleich, denn Ismas Vater, der schon länger tot ist, war ein Dschihadist, und nun hat sich Ismas Bruder Parvaiz dem IS angeschlossen.

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Je tiefer das Wasser von Katya Apekina

„Bei einer Mutter wie unserer entwickelt man einen Instinkt für bestimmte Situationen. Wenn man sie zu sehr behelligt, geht sie weg.“ (Seite 67)

Vor 12 Jahren hat der erfolgreiche Schriftsteller Dennis Lomack seine deutlich jüngere Frau und Muse Marianne verlassen und seither den Kontakt zu seinen beiden Töchtern verloren. Nach einem Suizidversuch Mariannes holt er die mittlerweile 16-jährige Edie und die zwei Jahre jüngere Mae zu sich nach New York, während die Mutter in eine psychiatrische Klinik in Louisiana eingewiesen wird.

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Sind wir nicht Menschen. Stories von T.C. Boyle

„Er musste diese neue Information verarbeiten, was, wie er zugeben musste, nicht leicht war und immer schwerer wurde. Nichts war, wie es schien.“ (Seite 345)

Laut Klappentext nimmt uns T.C. Boyle in seinem neuen Band mit Stories mit „in unsere unheimliche Zukunft“, doch dies trifft lediglich auf einen Teil der Geschichten zu. Der Großteil der Stories könnte sich genauso gut vor unserer Haustür bzw. in der Gegenwart ereignen, obwohl die Stories bisweilen eine recht bizarre Note aufweisen, so wie man das von Boyles Geschichten gewohnt ist.

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Shotgun Lovesongs von Nickolas Butler

„Wie hatten sich unsere Wege getrennt und warum gab es zwischen ihnen überhaupt noch eine Verbindung?“

Little Wing, Wisconsin: Die fünf Freunde Leland, Kip, Ronny, Henry und Beth kennen sich schon eine Ewigkeit und teilen viele gemeinsame Erinnerungen, doch als Erwachsene gehen sie völlig unterschiedliche Wege. Leland wird ein erfolgreicher Musiker und reist um die Welt, Kip verbringt einige Jahre in Chicago und macht dort Karriere als Rohstoffmakler, Ronny war lange Jahre Alkoholiker und ein berühmter Rodeoreiter, doch ist nach einer Hirnblutung kognitiv leicht beeinträchtigt, Henry und Beth waren schon in der Schule ein Paar, sind nun verheiratet, haben zwei Kinder und kämpfen um ihre Farm. Shotgun Lovesongs von Nickolas Butler weiterlesen

Fettnäpfchenführer Kanada. Wenn’s im Land der Weite eng wird von Sophie von Vogel

„Kanada lockt mit Weite, Wildnis und Toleranz. Mit unendlichen Wäldern, kristallklaren Seen, mit abenteuerlustigen Einwohnern und jeder Menge Platz. Falsch machen kann man in solch einem unkomplizierten Land doch eigentlich nichts, eh?“ (Klappentext)

Mareike kommt mit einem Working-Holiday-Ticket für ein Jahr nach Kanada, und an ihrem Beispiel erklärt Sophie von Vogel, in welche Fettnäpfchen man in Kanada treten und wie man es besser machen kann.

Von Vogel erzählt unter anderem von Einreise und Visum, Taxifahrt und Zweisprachigkeit, Vorstädten und Fortbewegungsmitteln, Stinktieren und Mücken, Festivals und Alkoholkonsum, Ureinwohnern und Multikulturalismus, Wendeltreppen und Schachbrettmuster, Ladenöffnungszeiten und Bring your own bottle, Umkleidekabinen und Service, THC und Geschlechtsidentität, Direktheit und Zurückhaltung, Smalltalk und Hilfsbereitschaft, Niagarafällen und Wäldern, Walen und Bären, Biberschwänzen und Bier.

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