Schlagwort-Archive: psychische Störungen

Heiter bis wolkig von Myrthe van der Meer

„Viele Dinge in der Psychiatrie sind erniedrigend. Eingewiesen zu werden ist eins davon. Einen Psychiater zu haben bringt auch nicht gerade viele Punkte ein. Mit deinem Lebensgefährten zu deinem Psychiater zu gehen, um eingewiesen zu werden, ist wahrscheinlich der Inbegriff der Erniedrigung.“ (Seite 20)

Myrthe van der Meer ist eigentlich auf dem Weg zum Abschlussgespräch mit ihrer Psychiaterin, wird von einem Vertretungsarzt jedoch kurzerhand auf Station eingewiesen, da sie Medikamente gebunkert und auf ganz rationale Art ihren Suizid geplant hat. Sie war in den letzten zwei Jahren fünf Monate in der Psychiatrie und mehrere Monate in der Tagesklinik, hat verstanden, dass ihre Depression immer wieder kommen wird, und möchte so nicht weiterleben. Heiter bis wolkig von Myrthe van der Meer weiterlesen

Mann und Frau von Zeruya Shalev

„[…] natürlich ist es eine Chance, denn in jedem Verlust liegt auch eine Erleichterung, stell dir vor, du kommst eines Tages nach Hause, und alles ist gestohlen, buchstäblich alles, du besitzt nichts mehr, es lohnt sich noch nicht einmal, aufzuzählen, was du nicht mehr hast. Ganz plötzlich werden deine Gedanken ruhig, du spürst eine tiefe Gelassenheit, fast so etwas wie Gnade, und du verstehst auf einmal, daß es keinen Kampf mehr gibt, weil es sinnlos geworden ist, zu kämpfen, daß du nachgeben mußt, weil du keine Wahl hast, du verlierst alles, aber du gewinnst eine tiefe Gelassenheit.“

Na’ama und Udi sind seit beinahe 25 Jahren, seit ihrem 12. Lebensjahr, ein Paar, haben ein gemeinsames Kind, die fast 10-jährige Noga, doch nun droht ihre Ehe zu zerbrechen. Sie sind gefangen in einem Teufelskreis aus Beschuldigungen, Schuldgefühlen und Kritik. Udi reagiert auf ihre Partnerschaftsprobleme mit einer Konversionsstörung – an einem Tag ist er plötzlich gelähmt, an einem anderen blind. Als Na’ama eine junge Heilerin um Hilfe bittet, entwickelt sich die Beziehung schließlich in eine ungeahnte und unerhoffte Richtung. Mann und Frau von Zeruya Shalev weiterlesen

ICH ist manchmal ein anderer. Mein Leben mit Schizophrenie von Cordt Winkler

„Ich selbst verband den Begriff Schizophrenie noch immer mit Vorurteilen und Ängsten. Eine groß angelegte Analyse über die Inhalte einiger deutschsprachiger Printmedien hatte bereits vor einigen Jahren ergeben, dass es den meisten Menschen damit genauso ging wie mir. […] In den meisten Fällen wurde der Begriff nur metaphorisch für etwas Absurdes, Abwegiges, Ärgerliches verwendet. […] Generell war das Wort Schizophrenie sehr häufig negativ besetzt. Diese negativen Eigenschaften wurden dabei den Betroffenen als Charaktermerkmale und nicht als Symptome der Krankheit zugeschrieben.“ (Seite 156f)

Cordt Winklers Vater litt an Schizophrenie, so dass dem Autor die Symptome der Erkrankung von Kindesbeinen an geläufig sind. Als Winkler in eine neue Stadt zieht und ein Studium beginnt, beschäftigt er sich mehr mit Schizophrenie und dem Leben seines Vaters – und erkrankt schließlich selbst.

In ICH ist manchmal ein anderer erzählt Winkler von High-Expressed-Emotions und Rückfallquote, Prodromalsymptomen und Früherkennung, Wahneinfall und Wahnsystem, Angst und postpsychotischer Depression, doppelter Buchführung und Psychiatrieaufenthalten, Psychopharmakotherapie und Nebenwirkungen, Vulnerabilitäts-Stress-Modell und kognitiver Verhaltenstherapie, Antipsychiatrie und Compliance. ICH ist manchmal ein anderer. Mein Leben mit Schizophrenie von Cordt Winkler weiterlesen

Der alte König in seinem Exil von Arno Geiger

„Witz und Weisheit des August Geiger“

Nachdem bereits der Großvater des Autors an Demenz erkrankt war, trifft es schließlich auch den Vater. Nach einem schleichenden Beginn, der der Familie einige Zeit verborgen blieb, sind die Anzeichen einer demenziellen Erkrankung letztendlich nicht mehr weg zu deuten.

Arno Geiger erzählt in Der alte König in seinem Exil von der Kindheit des Vaters im bäuerlichen Umfeld, von den Kriegserfahrungen des Vaters, von den Jahren zwischen Krieg und Demenz und schließlich von der Erkrankung, den Symptomen, dem Leiden und den schönen Augenblicken. Der alte König in seinem Exil von Arno Geiger weiterlesen

Film: Nicht alles schlucken – Leben mit Psychopharmaka

„Aber das Fatale, was ich bei den Medikamenten sehe, ist die Verpackung. […] Was da als Botschaft rüberkommt: Du bist falsch, da ist was in dir defekt, das müssen wir jetzt ändern. […] Da kommt was zu kurz, was nötig ist, um geheilt zu werden, um da rauszukommen.“ (Thomas Bock in Leben mit Psychopharmaka)

Ich kenne Menschen, die von der Einnahme von Psychopharmaka profitieren, die wenige Nebenwirkungen haben oder diese gut tolerieren können, die sich durch die Medikamente besser fühlen. Ich kenne aber auch die andere Seite: Menschen mit ausgeprägten extrapyramidal-motorischen Störungen durch jahrzehntelangen Gebrauch von typischen Antipsychotika, einen Freund mit Schizophrenie, der bisweilen Antipsychotika in solchen Mengen bekommen hat, dass er kaum kommunikationsfähig war, eine Freundin mit Paroxetin-Entzugssyndrom und die Macht, die in manchen psychiatrischen Einrichtungen durch Bedarfsmedikation und Fixierung über Patienten ausgeübt wird.

Nicht alles schlucken/Leben mit Psychopharmaka spricht all diese Facetten der Psychopharmakotherapie an und hat mir teilweise den Boden unter den Füßen weggerissen – obwohl oder gerade weil ich die Themen kenne, einen persönlichen Bezug dazu habe und sehr gut einschätzen kann, dass das Gesagte authentisch und ein Abbild der Realität ist. Film: Nicht alles schlucken – Leben mit Psychopharmaka weiterlesen

Der freie Tod. Eine kleine Geschichte des Suizids von Anne Waak

„Wenn du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt du von den Schmerzen, die in mir sind, und was weiß ich von deinen.“ (Seite 218, Zitat von Franz Kafka)

Dieses Buch ist für mich ein Beispiel dafür, wie man NICHT über Suizid schreiben oder sprechen sollte. Ich bin klare Befürworterin eines offeneren Umgangs mit den Themen Suizidalität, Suizid, Trauer nach Suizid und psychischen Störungen, aber es ist gute und wichtige Praxis, darüber auf eine Art und Weise zu sprechen, die nicht reißerisch ist.

Man weiß spätestens seit Goethes Die Leiden des jungen Werthers, dass das explizite Erwähnen von Suizidmethoden und von (unnötigen) Details im Zusammenhang mit einem Suizid sowie das Zurschaustellen besonders aufsehenerregender Suizide die Suizidrate erhöhen. Aus diesem Grund finde ich das hier besprochene Buch, das durchaus spannende und interessante Passagen aufweist, nicht nur respektlos, sondern vor allem gefährlich. Der freie Tod. Eine kleine Geschichte des Suizids von Anne Waak weiterlesen

Kompass ohne Norden von Neal Shusterman

„Alles hat Bedeutung da draußen, ich muss sie nur finden.“ (Seite 68)

Kompass ohne Norden ist keine fiktive Geschichte, sondern basiert auf der Krankheitsgeschichte von Brendan, Neal Shustermans Sohn, der im Alter von 15 Jahren an einer schizoaffektiven Psychose erkrankte.

Anhand des Hauptprotagonisten Caden Bosch (Brendans Alter Ego) zeigt Shusterman, wie sich die Symptome seines Sohnes entwickelten, wie sie sich im Verlauf veränderten, wie die Behandlung bei seinem neunwöchigen Klinikaufenthalt aussah, welche Auswirkung die medikamentöse Behandlung hatte.

Caden lebt in einer furchteinflößenden Welt: Monster sind in seinen Geist eingedrungen, haben Bilder herausgerissen und daraus Masken gemacht, so dass sie wie die Menschen aussehen, die Caden liebt. Sie lachen über ihn, sprechen über ihn, und sie sorgen dafür, dass Caden seine Umgebung als feindselig und bedrohlich empfindet, nicht mehr weiß, wem er trauen kann, sich immer mehr verschließt. Kompass ohne Norden von Neal Shusterman weiterlesen

Das Lächeln meiner Mutter von Delphine de Vigan

„Wahrscheinlich hatte ich gehofft, aus diesem seltsamen Material würde sich eine Wahrheit herausschälen. Aber es gab keine Wahrheit. Ich hatte nur verstreute Bruchstücke, und schon das Ordnen dieser Bruchstücke war eine Fiktion. […] Was versuchte ich eigentlich, wenn nicht dem Schmerz meiner Mutter näherzukommen, seinen Umfang, seine versteckten Winkel und den Schatten, den er warf, zu erkunden?“ (Seite 39)

Delphine de Vigan findet die Leiche ihrer Mutter Lucile in deren Wohnung, wo sie mehrere Tage lag, ohne dass jemand von ihrem Tod wusste. Nach langem Ringen mit sich entscheidet sie sich dafür, über ihre Mutter zu schreiben, befragt Familienangehörige, liest Briefe, hört Tonbandkassetten an, möchte verstehen, warum sich Lucile suizidiert hat. Das Lächeln meiner Mutter von Delphine de Vigan weiterlesen

Morgen bin ich ein Löwe von Arnhild Lauveng

„Früher verbrachte ich meine Tage als Schaf,
während sich alles in mir danach sehnte, über die
Savanne zu jagen.
Und ich ließ mich treiben, vom Pferch auf die Weide
und wieder in den Stall, wenn sie sagten, das sei für
ein Schaf so das Beste.
Und ich wusste, dass das falsch war.
Und ich wusste, dass es so nicht ewig gehen würde.

Früher verbrachte ich meine Tage als Schaf.
Aber morgen bin ich ein Löwe.“ (Seite 9)

Arnhild Lauveng war schizophren. Dies ist eine Phrase, die es in der Psychiatrie eigentlich nicht gibt, denn entweder ist man schizophren oder man ist es nicht. Man hat bestensfalls ein symptomfreies Intervall, aber die F20, mit der die Schizophrenie in der ICD-10 verschlüsselt ist, ist eine sogenannte Lebenszeitdiagnose, die man im Normalfall nie wieder los wird, auch wenn man nur eine einzige schizophrene Episode im Leben gehabt haben sollte.

Lauveng hat es jedoch geschafft, diese Diagnose wieder los zu werden (auch wenn es einige Menschen gibt, die das nicht akzeptieren möchten und/oder an einer initialen Schizophrenie-Diagnose zweifeln), nachdem sie insgesamt 6-7 Jahre ihres Lebens in psychiatrischen Kliniken verbracht hat. Morgen bin ich ein Löwe von Arnhild Lauveng weiterlesen

Reisen in die Welt des Wahns von Achim Haug

„Es ist auch eine Geschichte über das, was sicher ist, und das, was wir nur für sicher halten. […] Wenn der eine oder andere Leser vielleicht am Schluss selbst etwas verunsichert ist, würde mich das freuen, denn dies bringt uns näher an das Verständnis von Menschen mit Wahn.“ (Seite 7)

Achim Haug, emeritierter Professor für Psychiatrie, erzählt in Reisen in die Welt des Wahns anhand von vier Fallgeschichten von unterschiedlichen Facetten psychotischen Erlebens sowie von psychologischen Grundlagen bezüglich Wahrnehmen, Denken usw.

Er berichtet u.a. von kognitiver Dissonanz, Vulnerabilitäts-Stress-Modell der Schizophrenie, Suizidalität, Praecox-Erleben, schizotyper Persönlichkeitsstörung, Karl Jaspers, doppelter Buchführung, formalen Denkstörungen, Wahnstimmung, Wahnarbeit, Wahneinfall, Wahnwahrnehmung, bizarrem Wahn in der Schizophrenie, Wahndynamik, Jumping-to-Conclusions-Bias, Ich-Störungen, Wahnursachen, Wahnentwicklung, Capgras-Syndrom und Behandlung von Wahn. Reisen in die Welt des Wahns von Achim Haug weiterlesen