Archiv der Kategorie: Psychische Störungen

Warum normal sein gar nicht so normal ist… und warum reden hilft von Dominique de Marné

„Was hätte der 17-, 21-, 27-jährigen Version von mir geholfen, sich früher Hilfe zu suchen?

[…] inzwischen kenne ich die Antwort: Mir hätte es geholfen, wenn ich früher gewusst hätte, dass ich krank bin.“

Zehn Jahre lang hat Dominique de Marné nicht gewusst, was mit ihr los ist, dass sie mit ihren Beschwerden und Problemen nicht allein ist, dass es Hilfe gibt. In Warum normal sein gar nicht so normal ist erzählt sie von ihrer Depression, ihrer Borderline-Persönlichkeitsstörung und ihrer Alkoholabhängigkeit und erhofft sich durch ihre Offenheit, dass es andere Menschen in ähnlichen Situationen in Zukunft einfacher haben:

„Zu verändern, wie wir über psychische Gesundheit reden, und zu bewirken, dass wir überhaupt darüber sprechen, ist mittlerweile so etwas wie meine Mission geworden.“

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Aufsuchende psychiatrische Arbeit von Klaus Obert, Karin Pogadl-Bakan und Gabriele Rein

„Am Ende eines mehr oder weniger langen Prozesses liegt für den jeweiligen Menschen ein enormer Hilfebedarf vor, ohne in der Lage zu sein, sich angemessene Hilfe und Unterstützung zu holen, und zwar auch dann nicht, wenn die Umgebung dies empathisch einfühlend oder mit Druck einfordert. Zurück bleiben psychisch kranke Menschen in prekärsten Lebenslagen und mit völlig unangemessener Lebensführung. Weitgehend isoliert, sind sie massiv überlastet, vom Hilfesystem alleingelassen, und so entfernen sie sich sukzessive von Angehörigen, Freunden, Nachbarn oder Bekannten.“ (Seite 9f)

Seit ich zum ersten Mal von dem Konzept der aufsuchenden psychiatrischen Arbeit gehört habe, bin ich begeistert von diesem Ansatz, der es auch denjenigen Menschen ermöglicht, psychiatrische Hilfe zu erhalten, die sonst durchs Versorgungsnetz fallen würden. Gleichzeitig habe ich mich oft gefragt, wie es für mich wäre, als professionelle Helferin zu anderen Menschen nach Hause zu gehen – in ihr eigenes Reich, wo Dinge möglicherweise anders laufen, als ich das bevorzugen würde.

Aufsuchende psychiatrische Arbeit von Klaus Obert, Karin Pogadl-Bakan und Gabriele Rein spricht all diese Aspekte und noch viele weitere Facetten dieser besonderen Art von psychiatrischer Tätigkeit an, so dass ich das Buch nicht nur als eine Quelle der Information, sondern auch als Inspiration empfunden habe.

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Stimmenhören und Recovery von Joachim Schnackenberg und Christian Burr

„Die Grundhaltung der erfahrungsfokussierten Beratung, Stimmenhören als normale menschliche Erfahrung zu akzeptieren, mit der man lernen kann, gut zu leben, und nicht als (nicht verstehbares) Symptom einer Psychose oder einer anderen psychischen Störung zu behandeln, ist für die meisten eine ganz neue, aber sehr bereichernde und ermutigende Erfahrung.“ (Seite 17)

Im Buch, das sich an alle Praktiker im Bereich von Psychiatrie, Psychotherapie und verwandten Fächern und Berufen richtet, geht es u.a. um den Einsatz des sogenannten Maastrichter Interviews, das von Marius Romme und Sandra Escher auf der Basis von Berichten von 400 Stimmenhörenden entwickelt wurde:

„In unserer Forschung und den vielen Kontakten mit Stimmenhörenden stellten wir fest, dass Stimmen in ihrem Leben einen Sinn ergeben. Sie haben eine Verbindung zu persönlichen Problemen. […] Die meisten Stimmenhörenden können mit ihren Stimmen umgehen, nur eine kleine Anzahl braucht fachliche Unterstützung. Wir schlossen daraus, dass Stimmenhören an sich kein Zeichen einer Krankheit darstellt. Allerdings kann man krank werden, wenn man keinen guten Umgang mit den Stimmen findet.“ (Seite 9, Geleitwort von Marius Romme und Sandra Escher)

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Geschichte der Psychiatrie von Burkhart Brückner

„Geschichtliches Wissen ist ein wichtiges Orientierungsmittel für psychiatrisch Tätige.“ (Seite 7)

Ich bin schon seit vielen Jahren – erst als Krankenschwester, dann als Psychologin – im Psychiatriebereich tätig, und natürlich habe ich dadurch und durch Schul- und Allgemeinwissen einige Einblicke in historische Aspekte der Psychiatrie erhalten, aber explizit mit der Geschichte der Psychiatrie hatte ich mich bis dato noch nicht beschäftigt. Ich fand aber, dass es allmählich Zeit wurde, so dass ich Burkhart Brückners Buch gelesen habe.

Brückner, u.a. Professor für Sozialpsychologie, erzählt in seinem Buch eine knappe Geschichte der Psychiatrie von der Antike bis zur Gegenwart. Sein Fokus liegt dabei auf europäischen Traditionen und dem Umgang mit schweren psychischen Erkrankungen. Geschichte der Psychiatrie von Burkhart Brückner weiterlesen

Safewards. Sicherheit durch Beziehung und Milieu von Michael Löhr, Michael Schulz und André Nienaber

„Damit wir die psychiatrische Welt neu erschaffen können, müssen wir sie mit anderen Augen sehen. Safewards hilft, die Welt der Psychiatrie eher aus der Sicht der Betroffenen und weniger aus der Sicht der Institution zu sehen. Nicht mehr und nicht weniger.“ (Seite 181)

Vor 25 Jahren habe ich eine Ausbildung zur Krankenschwester an einer psychiatrischen Klinik absolviert, wo ich auch Zwangsmaßnahmen, das Aufschaukeln von Gewalt und Gegengewalt, das Ausüben von Macht über Fixierung und Bedarfsmedikation etc. erlebt habe. Heute arbeite ich als Psychologin, und auch als Privatperson ist es mir wichtig zu sehen, dass in deutschen Psychiatrien (langsam) ein Wandel einsetzt, der meiner Meinung nach schon lange überfällig ist.

Michael Löhr, Michael Schulz und André Nienaber schreiben in ihrem Buch Safewards. Sicherheit durch Beziehung und Milieu über die Ursachen von Gewalt und Aggression in der Psychiatrie, über Formen und Häufigkeiten von Übergriffen, professionelle Beziehungsgestaltung, das Safewards-Modell, Safewards-Interventionen und ihre Implementierung sowie die Studienlage. Zudem werden sechs Kliniken vorgestellt, die das Safewards-Konzept bereits eingeführt haben. Safewards. Sicherheit durch Beziehung und Milieu von Michael Löhr, Michael Schulz und André Nienaber weiterlesen

Stimmenreich. Mitteilungen über den Wahnsinn von Thomas Bock, Dorothea Buck und Ingeborg Esterer

„Menschen, mit denen man nicht spricht, lernt man auch nicht kennen, nimmt sie nicht als Menschen wahr. Darum konnten Psychiater in kommunalen und kirchlichen Anstalten uns zumuten, was sie selbst nicht ertragen hätten: die trostlose, menschenunwürdige, bloße Verwahrung ohne eine Beschäftigung; die von Psychiatern gegen uns beantragten und rigoros durchgeführten Zwangssterilisationen und ihre lebenslangen Folgen ohne eine menschliche Rehabilitierung; das Töten durch Vergasen, Abspritzen oder Zu-Tode-Hungern von über 200 000 als ‚lebensunwert‘ verurteilten Patientinnen und Patienten. […] Die heute wieder erstarkende biologisch-genetisch orientierte Psychiatrie kann nur unsere Angst erregen, denn sie war eine entscheidende Voraussetzung dieser Verbrechen. Wer die Patientenerfahrung seelisch verursachter Psychosen nicht gelten lässt, wird sie nur medikamentös bekämpfen.“ (Seite 85f)

Seit ich zum ersten Mal auf Thomas Bock gestoßen bin, wusste ich, dass ich mehr von ihm und über seine Anschauungen über Menschen mit Psychosen, über Psychopharmaka und über die therapeutische Beziehung zu Personen mit psychischen Problemen lesen und erfahren möchte. Seitdem habe ich mich näher mit seinen Büchern beschäftigt, und auch Stimmenreich vermittelt viel Wissen über den Umgang mit Menschen mit Psychosen und bietet so wertvolle Impulse für den persönlichen und den professionellen Umgang mit ihnen. Stimmenreich. Mitteilungen über den Wahnsinn von Thomas Bock, Dorothea Buck und Ingeborg Esterer weiterlesen

Tod dem Helfer von Kilian Kleinschmidt

„Ich möchte erzählen, wie es angefangen hat. Wie der Horror in mein Leben kam, die Geister, die Toten und warum ich ihnen die Tür immer wieder weit aufgemacht, sie willkommen geheißen habe, wie alte Bekannte.“ (Seite 9)

Ich habe die Angewohnheit, kurz vor dem Schlafen noch die erste Seite eines neuen Buches anzulesen. Eines Nachts habe ich genau dies mit Tod dem Helfer vorgehabt, aber eine Stunde später – es war bereits 1:30 – war ich immer noch wach, das Büchlein ausgelesen und ich so aufgewühlt, dass ich nicht schlafen konnte.

Kilian Kleinschmidt, der mir schon durch sein großartiges Buch Beyond Survival ein Begriff war, hat mich von der ersten Seite an beeindruckt. Mit seiner gnadenlosen Ehrlichkeit, mit der er von seinem emotionalen Erleben spricht, entblößt sich der Autor regelrecht vor dem Leser, macht sich dadurch angreifbar und verwundbar. Tod dem Helfer von Kilian Kleinschmidt weiterlesen

Eine Frage der Haltung. Psychosen verstehen und psychotherapeutisch behandeln von Thomas Bock und Gerhard Dieter Ruf

„Psychotische Menschen sind jahrzehntelang explizit von der Psychotherapie ausgeschlossen worden. Sie sei bei ihnen „kontraindiziert“, so die einhellige Fachmeinung, der nur selten widersprochen wurde. […]

In der Tat stellte sich die Frage, ob die Therapie nach dem klassischen Muster für psychotische Menschen besonders hilfreich war. […] Nach der heutigen Ausdifferenzierung der therapeutischen Ansätze und Verfahren lässt sich nun längst konstatieren, dass auch psychotische Menschen sehr von Psychotherapie profitieren können. Dennoch herrscht bei Therapeutinnen und Therapeuten immer noch eine große Zurückhaltung vor. Warum eigentlich?“ (Seite 7)

Eine Frage der Haltung beinhaltet ein Gespräch zwischen Thomas Bock (Professor für Klinische Psychologie und Sozialpsychiatrie, Psychologischer Psychotherapeut und Leiter der Psychoseambulanz am Hamburger UKE) und Gerhard Dieter Ruf (Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, systemischer Therapeut) mit dem Lektor, Redakteur und Autor Uwe Britten.

Diskutiert wurde dabei u.a. über Wahrnehmung und Affekte, Über- und Unterforderung, Halluzinationen und Wahn, Genetik und Hirnforschung, Stigmatisierung und Stigmaresistenz, Peerarbeit und EXperienced-INvolvement, Krankheit und Gesundheit, Missbrauch und Familiensituation, Psychotherapieschulen und Dachverband Deutschsprachiger Psychosen-Psychotherapie, Funktion und Dysfunktionalität der Psychose, Medikamente und Zwangsbehandlung, Soteria und Supported Employment. Eine Frage der Haltung. Psychosen verstehen und psychotherapeutisch behandeln von Thomas Bock und Gerhard Dieter Ruf weiterlesen

Eine andere Art von Wahnsinn von Stephen P. Hinshaw

„Menschen, die sich erinnern, beschwören den Wahnsinn durch Schmerz herauf, durch den Schmerz über den ständig wiederkehrenden Tod ihrer Unschuld; Menschen, die vergessen, beschwören eine andere Art von Wahnsinn herauf, den Wahnsinn, der durch Schmerzverleugnung und Hass auf die Unschuld entsteht, und die Welt ist vorwiegend bevölkert mit Wahnsinnigen, die sich erinnern, und mit Wahnsinnigen, die vergessen.“ (Seite 7f, Zitat von James Baldwin)

Wenn sich Stephen P. Hinshaw an seine Kindheit erinnert, sind das oft wochen- oder gar monatelange Verschwinden seines Vaters Virgil Jr. Hinshaw, das Schweigen über die Gründe hierfür und die Sorge des Sohnes, sein Vater könnte niemals wieder nach Hause zurückkehren, zentrale Themen, die sein Leben stark geprägt haben.

Als Stephen P. Hinshaw erwachsen ist, öffnet sich sein Vater ihm gegenüber plötzlich und erzählt in diesem ersten Gespräch und in vielen weiteren Unterhaltungen in den folgenden 24 Jahren von seiner psychischen Erkrankung, die er seinen Kindern und dem größten Teil seines sozialen Umfelds so lange verschwiegen hat. Er berichtet von einer ersten psychotischen Episode im Alter von 16 Jahren und zahlreichen weiteren Episoden, seinen Aufenthalten in psychiatrischen Anstalten, Fixierung und inhaltsleeren Stunden, Tabuisierung und Scham, Elektrokonvulsionstherapie und Insulinschocktherapie, Barbituraten und Antipsychotika, Gewalt und Machtlosigkeit, Schweigen und Leugnen, Isolation und Ausgrenzung. Eine andere Art von Wahnsinn von Stephen P. Hinshaw weiterlesen

Die Vermessung der Psychiatrie von Stefan Weinmann

„Das Problematische an unserer gegenwärtigen Situation in der Psychiatrie ist, dass schlechte Krankheitsverläufe häufig der Biologie und der „Erkrankung“ selbst (oder der krankheitsbedingt unzureichenden Therapietreue) und weniger unserem Umgang damit oder gar unseren Therapien angelastet werden.“ (Seite 20)

Stefan Weinmann ist Psychiater. Er weiß, wovon er spricht und was er kritisiert, ist mittendrin, kennt die Krankheitsbilder, die Behandlung, die Versorgungslage und die Forschungsergebnisse im Bereich der Psychiatrie. Das hat mich beim Lesen seines Buches von Anfang an begeistert und beeindruckt. Hier schwimmt jemand gegen den Strom, der genauso gut mit ihm schwimmen könnte, so wie es die breite Masse in der Psychiatrie tut. Die Vermessung der Psychiatrie von Stefan Weinmann weiterlesen