„Was sich in Tschernobyl am meisten einprägt, ist das Leben >>danach<<: Dinge ohne Menschen, Landschaften ohne Menschen. Wege ins Nichts, Telegrafendrähte ins Nichts. Hin und wieder fragt man sich: Was ist das – Vergangenheit oder Zukunft?“ (Seite 51)
Swetlana Alexijewitsch hat fast 20 Jahre lang an Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft geschrieben und hierfür mit ehemaligen Angestellten des Atomkraftwerks, mit Wissenschaftlern, Angehörigen, Liquidatoren, Umgesiedelten und Rückkehrern gesprochen.
Auf diese Weise hat Alexijewitsch, der 2015 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, die Erinnerungen von Menschen, deren Leben eng mit der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl verbunden ist, eingefangen und bewahrt, bietet so einen detaillierten und umfassenden Blick auf Tschernobyl und die Folgen des Reaktorunglücks.
Ich habe vor einer geraumen Weile Gespräche mit Lebenden und Toten gehört, das einige Passagen aus Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft enthält, und vor wenigen Wochen die Fernsehserie Chernobyl angesehen. Sowohl das Hörbuch als auch die Serie haben mich tief bewegt und oft in eine Art Schockzustand versetzt. Und das Gleiche ist auch beim Lesen von Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft geschehen.
Alexijewitschs Tschernobyl-Buch ist ergreifend und berührend, und schon in den ersten Kapiteln hat es mich zum Weinen gebracht, denn hier geht es u.a. um Ljudmila Ignatenko, die Ehefrau des umgekommenen Feuerwehrmannes Wassili Ignatenko, deren Geschichte auch in der Fernsehserie Chernobyl aufgegriffen wurde.
Alexijewitsch erzählt in ihrem Buch von Tod, Krieg, fehlender Aufklärung, Verharmlosung, Trotz, Trauer und Wut, aber auch von Liebe, Freundschaft und Hoffnung.
Besonders bewegend und ergreifend fand ich die Schilderungen der Evakuierungen, die natürlich notwendig waren, durch die aber so viele Menschen ihre Heimat verloren haben, sowie der Heimlichkeiten und Vertuschungen, die viele Menschenleben gekostet haben, das Akzeptieren der vielen Toten und Kranken, aber auch die Aufopferungen der Liquidatoren, um Schlimmeres abzuwenden.
„Es ist alles noch da, und alles ist wie früher. Dieselbe Erde, dasselbe Wasser, dieselben Bäume. […] Doch schon am ersten Tag erklärte man mir: Man sollte keine Blumen pflücken, sich lieber nicht auf die Erde setzen, kein Quellwasser trinken. […]
Der Tod lauerte überall, aber dieser Tod war irgendwie anders. Er trug neue Masken. Kam in einem anderen Gewand. Der Mensch wurde davon überrumpelt, darauf war er nicht vorbereitet. Nicht vorbereitet als biologische Art; sein gesamten natürliches Arsenal, ausgebildet zum Sehen, Hören und Tasten, versagte. Nichts davon war brauchbar; Augen, Ohren und Hände taugten nicht, waren keine Hilfe, denn Radioaktivität ist unsichtbar, lautlos und ohne Geschmack. Körperlos. Wir haben unser Leben lang Krieg geführt oder uns auf einen Krieg vorbereitet, wissen so viel darüber – und dann! Das Feindbild hatte sich verändert. Wir hatten plötzlich einen neuen Feind. Feinde … Töten konnte das abgemähte Heu. Der geangelte Fisch, das gefangene Wild. Ein Apfel … Die Welt um uns herum, uns früher so gefügig und freundlich gesinnt, flößte nun Angst ein.“ (Seite 44f)
Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko und Ganna-Maria Braungardt. Suhrkamp, 2019, 371 Seiten; 18 Euro.
Dieser Post ist Teil meines Radioaktivität-Monatsthemas im Mai 2020.