Gespräche mit Lebenden und Toten von Swetlana Alexijewitsch (Hörbuch)

„Nach Beobachtungen wurde am 29. April 1986 eine hohe Strahlenbelastung in Polen, Deutschland, Österreich und Rumänien registriert, am 30. April in der Schweiz und in Norditalien, am 1. und 2. Mai in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Großbritannien, Nordgriechenland, am 3. Mai in Israel, Kuweit und der Türkei. In große Höhe geschleuderte gasförmige und flüchtige Substanzen breiteten sich global aus. Am 2. Mai wurden sie in Japan registriert, am 4. Mai in China, am 5. Mai in Indien, am 5. und 6. Mai in den USA und in Kanada. Weniger als eine Woche brauchte es, um Tschernobyl zum Problem der ganzen Welt werden zu lassen.“

„Manchmal mach ich einfach die Augen zu und wandere ich Gedanken durchs Dorf. Na, sage ich dann, wo soll denn hier die Radioaktivität sein, wo doch Schmetterlinge umherflattern und Hummeln brummen.“

Ich habe Gespräche mit Lebenden und Toten zwei Mal im Abstand von zwei Tagen angehört. Beim und nach dem ersten Mal war ich von den einzelnen Geschichten, die Swetlana Alexijewitsch aus Gesprächen mit Zeugen, Opfern und Helfern des Reaktorunglücks wiedergibt, stellenweise wie paralysiert und wusste, dass ich das Ganze noch einmal anhören, mir das ganze Grauen ihrer Porträts noch einmal vor Augen führen muss. Auch beim zweiten Mal hat mich das Hörspiel emotional sehr aufgewühlt und mich so gefesselt wie kaum ein anderes Hörbuch zuvor. Und auch nach dem zweiten Hören sind die Geschehnisse, das Leid und die fatalen Folgen kaum greifbar und begreifbar.

Alexijewitsch, der 2015 der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde und von der ich bis dato noch nichts gelesen hatte, hat für Gespräche mit Lebenden und Toten über Jahre hinweg Überlebende der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl befragt, die sich am 26. April 1986 in Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl nahe der ukrainischen Stadt Prypjat zugetragen hat. Ich selbst kann mich noch gut an die Tage und Wochen nach dem Unglück erinnern – und an die Versuche der sowjetischen und der ostdeutschen Regierung, das Ganze zu verharmlosen und zu vertuschen. Die gespenstische Stimmung und das Bemühen, die Tragik und die Dramatik der Katastrophe abzumildern, spürt man auch in jedem Moment des Hörspiels, in dem z.B. von Menschen erzählt wird, die ohne Schutzmaßnahmen zu den Bränden gerufen wurden, um diese zu löschen, von Personen, die um ihre Lieben bangen und lange nicht erfahren, wie es um ihre betroffenen Partner, Kollegen, Freunde steht, und von Menschen in der Sperrzone, die nicht darüber aufgeklärt werden, was Radioaktivität ist, worin die Gefahr liegt, wie sie ihr Risiko minimieren können.

Die von Alexijewitsch erwähnten Schicksale unterscheiden sich dabei stark voneinander, doch der gemeinsame Nenner ist stets die Zäsur, die der Reaktorunfall für die Menschen dargestellt hat: Nichts ist für die Betroffenen wie zuvor, es gibt ein Leben vor und (obgleich nicht für alle) eines nach dem Reaktorunglück.

Das Hörspiel besticht zudem durch seine exzellenten Sprecher sowie durch die eingespielten Geräusche und die Stille zwischen den Gesprächen, in der der Hörer einen kurzen Moment innehalten kann, um über das Gehörte nachzudenken und um das Gehörte nachzuspüren.

Alexijewitsch ist mit Gespräche mit Lebenden und Toten ein dichtes und intensives Zeugnis gelungen, das von Zerstörung und der Rückkehr von Flora und Fauna, von Liebe und Verlust, von Überlebenden und Toten erzählt und dabei auf bedrückende Weise zeigt, welche Gefahr in der Nutzung der Kernenergie liegen kann.

Swetlana Alexijewitsch: Gespräche mit Lebenden und Toten. Aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko. Hörspiel mit Konstantin Graudus, Viola Morlinghaus, Ilse Strambowski, Peter Gavajda. der Hörverlag, 2011; 14,99 Euro.

Dieser Post ist Teil meines Radioaktivität-Monatsthemas im Mai 2020.

Dazu hab ich auch was zu sagen!