Durch die Nacht von Stig Sæterbakken

„Trauer tritt in so vielen Formen auf. Sie ist wie ein Licht, das ein- und ausgeschaltet wird. Sie ist da, sie ist nicht auszuhalten, dann verschwindet sie, weil sie unerträglich ist, weil man sie nicht permanent ertragen kann. […] Tausend Mal am Tag vergaß ich, dass Ole-Jakob tot war. Tausend Mal am Tag fiel es mir plötzlich ein. Beides war unerträglich. Ihn zu vergessen war das Schlimmste, was ich tun konnte. An ihn zu denken war das Schlimmste, was ich tun konnte. Kälte kam und ging. Wärme kam nie. Es gab nur Kälte und die Abwesenheit von Kälte.“ (Seite 9)

Schuld ist oft das vorherrschende Gefühl nach dem Suizid eines Nahestehenden, selbst wenn es keinen offensichtlichen Grund für Schuldgefühle gibt. Schuld, von der man meint, sie auf sich geladen zu haben, weil man etwas gesagt oder nicht gesagt hat, weil man etwas getan oder nicht getan hat, weil man irgendwann den vermeintlich falschen Weg eingeschlagen hat, irgendwo abgebogen ist, wo man (wie man Jahre später meint) nicht hätte abbiegen sollen.

Jeder, der einen Nahestehenden durch Suizid verloren hat, kennt diese Gefühle von Schuld und weiß, wie dominant und belastend diese sind, dass nach einem Suizid das eigene Leben in ein Vorher und ein Nachher geteilt ist, dass sich dadurch alles wandeln kann, dass sich Lebenswege ändern können.

So fühlt sich auch Karl Meyer in Stig Sæterbakkens Roman Durch die Nacht, der nach dem Suizid seines Sohnes an vergangene Fehler denkt, Situationen wieder aufleben lässt, in denen er Schuld auf sich geladen hat, der schließlich sein altes Leben verlässt und sich auf neue Pfade begibt, von denen er hofft, dass sie ihm Frieden bringen.

Von der ersten Seite an hat mich Durch die Nacht mitten ins Herz getroffen. Die Art und Weise, wie Sæterbakken vom Verlust seines Sohnes erzählt, hat mich tief bewegt, ist eindringlich und authentisch. Zudem hat mich der Roman auch in sprachlicher Hinsicht überzeugt; Sæterbakken wechselt zwischen stakkatoartigen Sätzen und langen Verschachtelungen, was für einen ganz besonderen Rhythmus des Romans sorgt.

Die Schilderungen der Gedanken und Gefühle des Vaters treffen stets ins Schwarze, lassen den Leser teilhaben an seinem Schmerz ob des Verlustes, an der Verzweiflung darüber, Fehler gemacht zu haben, die nun nicht mehr korrigiert werden können, an Versuchen, durch Nachrichten an den toten Sohn diesen wieder zurück ins Leben zu holen, sich eine gewisse Normalität zu bewahren, ihn nicht ganz aus dem eigenen Leben verschwinden zu lassen.

Während mich die erste Hälfte des Romans vollends überzeugt hat, empfand ich den Teil, in dem Karl nach Deutschland und in die Slowakei reist, als weniger eindrücklich und beinahe kryptisch. Das Ende hat mich jedoch so bewegt und beeindruckt, dass ich den Roman nichtsdestotrotz voll und ganz empfehlen kann und ihn zu meinen Lieblingsbüchern 2019 zähle.

Beim Lesen war ich mir sicher, dass der Autor im Zusammenhang mit dem Verlust durch Suizid von eigenen Erfahrungen schreibt, da er sich so überzeugend in die Gefühls- und Gedankenwelt eines Menschen hineinversetzen kann, der einen Nahestehenden durch Suizid verloren hat. Erst nach der Lektüre habe ich festgestellt, dass Durch die Nacht Sæterbakkens letzter Roman war, dass er sich 2012 im Alter von 46 Jahren suizidiert hat.

„Und dann die Gewissheit, welchen verschwindend geringen Teil das Erinnerte ausmachte, gemessen an all dem, was ich vergessen hatte. Hunderte Tage, Tausende Stunden. Die einmal existiert hatten, jetzt aber verschwunden waren, sodass ich im Begriff war, ihn ein zweites Mal zu verlieren, diesmal endgültig.“ (Seite 136)

Stig Sæterbakken: Durch die Nacht. Aus dem Norwegischen von Karl-Ludwig Wetzig. DuMont Buchverlag, 2019, 288 Seiten; 22 Euro.

Dieser Post ist Teil des Vergänglichkeit-Monatsthemas im November 2020.

Dazu hab ich auch was zu sagen!