„[…] ich rede mir ein, ein kleines Detail, ein winziges, unbedeutendes Detail wie ein Glas mehr oder weniger, oder auch eine kleine Pause, um mir ein paar Dutzend Meter vor der Place de la République die Schnürsenkel zu binden, oder ein kleiner Umweg durch eine Straße, die ich mag, die ich angenehmer, schöner, besonderer finde, ich frage mich, ob etwas derart Banales mir erlaubt hätte, Reda nicht zu begegnen, ob eine so lächerliche andere Entscheidung den Verlauf der Nacht und der folgenden Monate geändert hätte.“
Édouard hat den Heiligabend mit seinen besten Freunden Didier und Geoffroy verbracht und macht sich schließlich mit seinen Buchgeschenken auf den Heimweg. Da trifft er auf einen gutaussehenden, sympathischen, lächelnden Fremden, der darauf insistiert, dass Édouard mit ihm spricht und noch ein wenig Zeit mit ihm verbringt. Und nach einigem Zögern entschließt sich Édouard, den Fremden – Reda – mit zu sich zu nehmen. Sie verbringen die Nacht miteinander, reden, lachen, doch gegen Morgen kippt die Stimmung, und Reda zieht plötzlich eine Waffe.
Dieses Erlebnis zerstört Édouards Vertrauen in Menschen, selbst gegenüber seinen engsten Freunden. Er kann nichts mehr ertragen, „wollte so viele Leute wie möglich mit sich herunterziehen“ und „den Schmerz verteilen“.
Édouard entwickelt einen ausgeprägten Rededrang, teilt sein Trauma mit Freunden, Ärzten und kaum bekannten Leuten, phantasiert über das Einbeziehen gänzlich Fremder:
„An den Tagen, an denen ich ruhiger war, stellte ich mir vor, wie ich unversehens Unbekannte auf der Straße ansprach, irgendwo auf dem Bürgersteig oder im Supermarkt, um ihnen meine Geschichte detailliert zu erzählen, alles. In meinen Visionen ging ich auf den Betreffenden zu, er schrak zusammen, und ich redete los, ebenso vertraut und unverblümt, als würde ich ihn schon immer kennen, ohne mich vorzustellen, und was ich da erzählte, war so hässlich, dass er nicht anders konnte als stehenzubleiben und mir bis zum Ende zuzuhören; er lauschte, und ich beobachtete sein Gesicht.“
Auf den Rededrang folgt eine starke Mattigkeit, und Édouard besucht zum ersten Mal nach zwei Jahren seine Schwester und hofft, durch einen Aufenthalt auf dem Land über seine Müdigkeit und den Überdruss seines Alltags hinweg zu kommen. Seine Schwester ist neben Édouard selbst der zweite Erzähler im Roman, denn sie berichtet ihrem Mann ausführlich von Édouards Erlebnis mit Reda, so dass Édouard durch sie spricht und die traumatischen Geschehnisse zum Teil stellvertretend erzählt werden.
Aufgrund meiner großen Begeisterung für Édouard Louis‘ Debüt Das Ende von Eddy war ich sehr gespannt auf Im Herzen der Gewalt, den zweiten Roman des französischen Autors.
Eigentlich wollte Louis nach der Veröffentlichung seines Erstlings einen Liebesroman schreiben, doch dann ist ihm im wirklichen Leben Reda begegnet, und er wollte und musste über den Abend mit ihm und über sein Trauma schreiben. Im Herzen der Gewalt ist somit ein autobiografischer Roman, und der Autor erlaubt dem Leser darin einen tiefen Einblick in seine Gedanken- und Gefühlswelt.
Louis schreibt offen, fast exhibitionistisch, verschont den Leser nicht und erzählt ihm alle Details seines Abends mit Reda, der erlebten Gewalt und der Zeit danach, in der er wieder lernen muss, in seiner Wohnung zu schlafen, allein zu sein, zu vertrauen. Damit ist Im Herzen der Gewalt meiner Meinung noch persönlicher und noch ergreifender, als es das großartige Debüt Das Ende von Eddy war.
Den Einstieg in Im Herzen der Gewalt empfand ich als eher verwirrend und den Inhalt als sehr unstrukturiert. Dieser Schreibstil passt jedoch perfekt zum Thema des Romans, denn auch Édouard hat seine Struktur und seinen geordneten Alltag durch die Begegnung mit Reda verloren, und die langen, verschachtelten Sätze mit den ständigen Wiederholungen, den eingeschobenen Gedanken und Querverweisen vermitteln einen Eindruck vom atemlosen Erzählen Édouards, der seine Gedanken und Gefühle erst wieder sortieren und der von seinen Erlebnissen und von der erfahrenen Gewalt erzählen muss, um wieder in sein altes Leben finden zu können.
Louis fordert durch seinen Erzählstil höchste Konzentration vom Leser, und obwohl die Lektüre formal und inhaltlich nicht immer einfach ist, erhält man als Leser dadurch auch einzigartige Einblicke, wie der Autor versucht, das Trauma zu verarbeiten.
Trotz des düsteren Themas empfand ich Im Herzen der Gewalt auch als sehr positives Buch, denn Louis schreibt sehr feinfühlig über seine Verbindung zu anderen Menschen, über seine Freunde, die ihm in dieser schweren Zeit geholfen haben, und über die Möglichkeit, keine Rache zu suchen, sondern Reda zu vergeben, das Trauma integrieren und so weiterleben zu können.
Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer, 2017, 216 Seiten; 20 Euro.
Dieser Post ist Teil meines Monatsthemas „Sex und Gewalt“ im Dezember 2020.
Großartiges Buch! Ich habe es durch Zufall durch einen Zeitungsartikel entdeckt, wo eine Lesung von ihm vorgestellt wurde und da es interessant klang bin ich kurzerhand dahingegangen. War auch sehr interessant, was der Autor selbst an dem Abend zu erzählen hatte. Fand auch die Wahl seiner Erzählweise spannend. Immer und wieder wurde seine Geschichte von anderen erzählt und benutzt und so erzählt auch im Buch seine Schwester seine Geschichte, während er hinter der Tür steht. Fand es auch immer wieder spannend, wie er sich selbst und sein eigenes Denken und Handeln reflektiert. Hat mich nach dem Lesen noch lange beschäftigt.
Alles Liebe
Nadine
mit einem verspäteten #litnetzwerk 😀
Wie toll, dass du bei einer Lesung von ihm warst, bei der er dieses Buch vorstellt. Ich habe ihn auf einer Lesung seines neuesten Buches gesehen und fand ihn sehr beeindruckend. So locker, nett, dankbar, witzig und klug, und ein bisschen aufgeregt war er. Sehr sympathisch!
Liebe Grüße an dich!