Patria von Fernando Aramburu (Hörbuch)

„Bittori, um der Liebe Jesu Willen, warum steckst du deinen Finger in diese Wunde? Da hab ich ihm geantwortet: Um den ganzen Eiter herauszupulen, der da noch drinnen steckt. Sonst schließt sie sich nie.“

Bittori und Miren – einst beste Freundinnen, die zusammen ins Kloster gehen wollten, aber schließlich beide 1963 geheiratet haben – haben sich voneinander entfremdet: Während Bittoris Ehemann Txato vor über 20 Jahren von Terroristen der Euskadi Ta Askatasuna (ETA) erschossen wurde, sitzt Mirens Sohn Joxe Mari wegen seiner ETA-Aktivität im Gefängnis.

Seit seinem gewaltsamen Tod besucht Bittori regelmäßig das Grab Txatos und spricht mit ihm. Nun hat sie eine Entscheidung getroffen, mit der sie ihn konfrontieren möchte: Sie will am selben Abend in ihr altes Haus zurückkehren, das sie nach seiner Ermordung verlassen hat.

Bittoris Wiederauftauchen im Dorf sorgt für Aufregung bei den Bewohnern, vor allem bei Miren, die der alten Freundin nur noch ablehnende und feindliche Gefühle entgegenbringt.

Fernando Aramburu, gebürtiger Baske, der seit mehr als 30 Jahren in Deutschland lebt, erzählt in seinem Roman von zwei Familien, die eng befreundet waren, sich durch extremistisches, separatistisches und nationalistisches Gedankengut immer weiter auseinandergelebt haben und schließlich zu erbitterten Feinden wurden.

Die Romanhandlung ist in einem fiktiven Dorf in der Nähe von San Sebastián angesiedelt, und Aramburu erzählt anhand seiner Geschichte von Ursachen und Konsequenzen des Terrors, von Rache und Vergebung, von Freundschaft und Liebe, von Entzweiung und Hass. Dabei wechselt er immer wieder die Zeitebene, so dass nach und nach immer mehr Informationen zum Tathergang, zu den Hintergründen und den Jahren nach dem Attentat ans Licht kommen und sich die Geschichte dadurch sehr langsam in all ihren Facetten entblättert.

Der Leser erhält durch Aramburus Ausführungen tiefe Einblicke in die Themen ETA und Baskenland, aber auch in universell gültige Aspekte von Separatismus, Nationalismus und Terrorismus. Patria – herausragend gelesen von Eva Mattes, die den Leser wirklich und wahrhaftig in das kleine Dorf versetzt – war eine meiner ersten Begegnungen mit der ETA, über die ich kaum mehr wusste als die groben Fakten, die zum Allgemeinwissen gehören. Aramburu hat mir durch seine genauen Beobachtungen, seine detaillierten Beschreibungen und seine komplexen Figuren die Themen ETA und Baskenland sehr nahe gebracht und mich neugierig auf die Region und den Konflikt gemacht hat.

Durch seine ausführlichen Schilderungen der beiden Familiengeschichten über Jahrzehnte hinweg und den raffinierten Erzählstil mit den Vor- und Rückblenden und dem gemächlichen Preisgeben von immer mehr Details und Geheimnissen, die den Leser/Hörer nach und nach verstehen lassen, was passiert ist und wie die Ereignisse zusammenhängen, hat mich Aramburu zudem perfekt unterhalten, und die 16 (!) Hörstunden des gekürzten (!) Romans waren zu keinem Zeitpunkt langatmig oder zu ausschweifend. Im Gegenteil: Nach dem Hören des Hörbuches habe ich das Gefühl, der gesamten Geschichte nochmals lauschen zu wollen und zu müssen, um die Zusammenhänge und die vielen Details ein zweites Mal zu erleben und dadurch die gesamte Komplexität des Romans erfassen zu können.

Aramburu schreibt anspruchsvoll und zeitweise in Euskara, aber dennoch leicht verständlich. Lediglich die Zeitebenenwechsel und die ungewohnten Namen der Protagonisten haben mich anfangs beim Hören gebremst und von mir höchste Konzentration gefordert.

Ich werde Patria eines Tages sicherlich erneut hören oder als Roman lesen, denn Aramburu hat mich mit seiner Geschichte gefesselt und mich mit seiner Fähigkeit, die Welt nicht in Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Opfer und Täter einzuteilen, durchweg beeindruckt.

Fernando Aramburu: Patria. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Autorisierte Lesefassung. Gelesen von Eva Mattes. Argon, 2018; 29,95 Euro.

Dieser Post ist Teil des Spanien-Monatsthemas im Mai 2019.

2 Gedanken zu „Patria von Fernando Aramburu (Hörbuch)“

  1. Liebe Romy,
    du bist zu schnell für mich! Ich komme mit dem Kommentieren nicht mehr hinterher… Ich arbeite mich jetzt von hinten nach vorne durch. 😉

    Danke für diesen Tipp, der sofort auf meine Wunschliste gewandert ist! Eva Mattes liest das HB, das wäre genau mein Fall. Bin nur etwas unsicher, da es gekürzt ist. Eigentlich höre ich das nur in Ausnahmefällen. Aber die Thematik interessiert mich total!
    GlG, monerl

    1. Danke für deinen lieben Kommentar. Mich würde mal interessieren, wie stark bei Patria gekürzt wurde, denn das Hörbuch ist ja auch sehr lang.

      Ich hatte beim Hören zumindest nicht das Gefühl, dass mir etwas fehlt, aber ich verstehe das gut, dass man kein gekürztes Buch hören will, weil ja immer etwas verlorengeht…

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