
„Anhedonie: die Unfähigkeit, irgendetwas zu genießen, irgendeine Freude zu empfinden bei jeglicher Tätigkeit. Es gab nichts mehr, was Spaß machte, und sei es nur für einen Augenblick. Alles war grau in grau, die Berührungen, die Filme, die Mahlzeiten, die Bücher, wenn sie alle eine Farbe gehabt hätten, es wäre immer nur grau gewesen. Ich selbst wäre grau gewesen. Ich schmeckte grau und sah grau und dachte grau.“ (Track 18)
Der Protagonist in Haus zur Sonne ist am Boden: Nach mehreren Krankheitsphasen im Rahmen seiner bipolaren Störung ist seine Wohnung heruntergewirtschaftet, die Wände sind vom Rauchen vergilbt, überall stehen unausgepackte Kartons, er ist verschuldet, nach der letzten Manie hat sich fast jeder von ihm abgewendet. Er hat sich aufgegeben:
„Denn die Katastrophe war wieder passiert, und zwar intensiver und länger denn je. Ich hatte nicht für möglich gehalten, dass das geschehen könnte, und dann auch noch schlimmer, noch zerstörerischer als die Male davor. Jede Manie nimmt einem etwas, nimmt einem sogar sehr viel, aber diese, die letzte Manie, sie hat mir wirklich alles genommen.“ (Track 2)
Da erhält er einen Brief vom sogenannten „Haus zur Sonne“ – eine staatliche Einrichtung, in der einem alle erdenklichen Träume erfüllt werden, mit der Bedingung, dass man nach deren Erfüllung aus dem Leben scheiden muss.
Letztens habe ich mit großer Begeisterung Haus zur Sonne gelesen und eine Lesung mit Thomas Melle besucht. Danach habe ich Die Welt im Rücken, das ich bereits vor vielen Jahren gelesen habe, noch einmal als Hörbuch gehört, war auch hier weiterhin begeistert und beeindruckt von Melle. Und nun habe ich zudem das Hörbuch zu Haus zur Sonne gehört und bin noch beeindruckter von dem Roman als vorher schon, was ich nicht für möglich gehalten hatte.
Das Buch und das Hörbuch haben eine unglaubliche Wucht, und die Lesung von Jens Harzer ist sehr gelungen, unglaublich passend, obwohl (oder gerade weil) er diesen besonderen Roman ganz ruhig und unaufgeregt einliest.
Haus zur Sonne bietet bewegende Einblicke in Depression, Manie, Psychose und Suizidalität, enthält viele kluge Gedanken, und beim Lesen und Hören wollte ich mir unzählige Sätze herausschreiben, weil sie auch für andere Betroffene hilfreich und relevant sein könnten, weil sie stets ins Schwarze treffen und so entstigmatisieren. Andere Gedanken im Buch würde ich eher nicht unbedacht mit Betroffenen teilen, vor allem nicht bei (latenter) Suizidalität, da sie eher düster sind und aus dem Kontext gegriffen möglicherweise eine Abwärtsspirale verstärken könnten. Authentisch finde ich Melles Schilderungen aber jederzeit, und stets sind sie pointiert, bewegend, sprachlich anspruchsvoll.
Melle schreibt in seinem Roman von Verzweiflung, Leiden und Todessehnsucht, aber auch von einem aufkommenden Lebenstrotz, vom Aufflammen des Wunsches nach Weiterleben, vom Hadern mit sich, der Welt und der Erkrankung sowie von der typischen Ambivalenz bei Suizidalität.
Ich bin extrem beeindruckt von diesem Roman und empfehle ihn sowohl als Buch als auch als Hörbuch.
„[…] und ich fragte mich, wieso mein Zustand heute so viel schlimmer war als damals […] und ich mich dabei doch völlig hoffnungslos und endfertig gefühlt hatte, nicht mehr zu heilen, nicht mehr zu retten. Vielleicht war es ja jetzt auch so, und ich könnte gegen mein Wissen wieder einigermaßen hergestellt werden, und später würde ich mich fragen, wie ich das denn wieder geschafft hätte?“ (Track 78)
Thomas Melle: Haus zur Sonne. Ungekürzte Lesung von Jens Harzer. Argon Verlag, 2025; 20,95 Euro.