„Als sie die Luft in sich einsog, sah ich auf ihrem Gesicht etwas, das ich nie zuvor gesehen hatte: einen Ausdruck der Erleichterung, als hätte sie nicht Sekunden ohne Luft zugebracht, sondern ein ganzes Leben, und als sei sie jetzt endlich frei.“
Der Ich-Erzähler der Rahmengeschichte gehört zur „Generation der Wunder“: zu „denjenigen, die zwischen dem Beginn des Zweiten Amerikanischen Bürgerkrieges im Jahr 2074 und dessen Ende 2095 zur Welt kamen“. Er hat sich in seinem gesamten Berufsleben als Historiker mit dem Zweiten Bürgerkrieg beschäftigt und lebt nun in New Anchorage, im neutralen Norden.
Im Mittelpunkt des Romans steht jedoch nicht dieser Ich-Erzähler, sondern Sara T. Chestnut, die seit ihrer Kindheit „Sarat“ genannt wird. Sarat wächst mit ihrer Zwillingsschwester Dana, ihrem älteren Bruder Simon und ihren Eltern in Louisiana auf. Sarats Familie träumt von einem neuen Leben im Norden, wo es mehr Arbeit und Nahrung sowie weniger Elend und Gewalt gibt, wo das Klima noch angenehmer ist und man der brütenden Hitze der Südstaaten und der Überflutung der Küstenregionen entfliehen kann.
Nach dem Tod des Vaters, der für eine Aufenthaltserlaubnis gen Norden gefahren ist, unterwegs jedoch bei einem Attentat getötet wurde, muss sich die Mutter mit den Kindern allein durchschlagen, und als der Krieg immer näher rückt, verlassen sie ihre Heimat und begeben sich ins Camp Patience, ein Flüchtlingslager in Mississippi, wo sie mehrere Jahre leben werden.
Am Beispiel der Familie Chestnut erzählt Omar El Akkad von Entwurzelung und dem Leben in einem Camp, von Elend und Hoffnungslosigkeit, von Dreck und Gewalt, von Landminen und Massakern, von Verlust und Rache, von Gefängnis und Folter. Dabei ist Sarat der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Sie gibt dem Zweiten Amerikanischen Bürgerkrieg ein Gesicht und einen Namen, und durch ihre Person erfährt der Leser vom Leben und vom Alltag in den USA im späten 21. Jahrhundert.
El Akkad beschwört mit American War ein schreckliches und erschreckendes Szenario herauf: Erderwärmung, Fluten, Dürren, Selbstmordattentate, einen Bürgerkrieg mit 11 Millionen Toten sowie eine 10 Jahre lang wütende Seuche mit 110 Millionen Toten. All dies erscheint durch die Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der USA und den durch ihn initiierten Austritt aus dem Pariser Klimavertrag auf beunruhigende Weise glaubwürdig, und durch die detaillierten Beschreibungen des Alltags der Chestnuts sowie die Verwendung von Gerichtsakten, Zeitungsartikeln und Briefen wirkt der Roman nicht wie eine Dystopie, sondern wie ein reales Zeitdokument.
Wie der Autor bei einer Veranstaltung in der Kanadischen Botschaft in Berlin berichtete, hatte er verschiedene Kriegsdokumente ursprünglich zu Recherchezwecken gelesen, sie dann jedoch als Teil des Romans verwendet, wodurch – neben der persönlichen Geschichte um Sarat und ihre Familie, die größtenteils ohne Kriegsgetöse erzählt wird, sondern meist eher leise und privat wirkt – andere Akzente im Buch gesetzt werden. Durch die verschiedenen Dokumente und die lebendige Erzählweise zweifelt man beim Lesen zu keinem Zeitpunkt an El Akkads Geschichte, die auf unheimliche Weise realistisch und wahr erscheint, wodurch der Austritt der USA aus dem Klimavertrag umso unheilvoller wirkt.
Sehr gelungen fand ich zudem, dass das Buch sprachlich sehr variiert: Sarats Erlebnisse als Kind werden z.B. mit kindlicher Naivität erzählt, später mit einer emotionalen Reife und schließlich mit einer Leere und Gefühllosigkeit, die dem Leser überzeugend nahebringen kann, was Sarat im Laufe ihres Lebens widerfahren ist.
Für mich ist American War ein Buch mit einer ungeheuren Schlagkraft: ein beunruhigender und beunruhigend glaubwürdiger Roman, eine gespenstische und realistische Zukunftsvision, sprachlich anspruchsvoll und formal durchweg gelungen. Ich wünsche American War aus diesem Grunde viele Leser und bin bereits gespannt auf den nächsten Roman des kanadischen Autors.
Omar El Akkad: American War. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer, 2017, 443 Seiten; 24 Euro.