„Wer normal ist, ist gesund. Und normal ist, wer ein angepasstes soziales Leben führt. Diese Gleichsetzung wird erst in der Umkehrung zum Problem: Wer sich nicht normal verhält, ist nicht normal, folglich ist er nicht gesund. Er ist psychisch gestört, ist verrückt, ist geisteskrank. Die beiden letzten Begriffe werden in der Fachwelt längst nicht mehr verwendet, weil sie abwertend sind, im öffentlichen Bewusstsein aber wirken sie unverändert fort.“ (Seite 20)
Asmus Finzen, den ich bereits von seinem großartigen Buch Schizophrenie kenne, widmet sich in Normalität der Frage, wo und wie (und ob) die Grenzen zwischen „normal“ und „abnorm“, zwischen „gesund“ und „krank“ gezogen werden können.
Finzen spricht hier eine Fülle von Themen an, z.B. Vorurteile und Stereotypen, psychiatrische Epidemiologie, den Unterschied zwischen Zeichen und Symptomen, das AMDP-System zur Einschätzung psychopathologischer Phänomene, Klassifikationssysteme und deren Wandel über die Zeit, den Einfluss der Medien und der Pharmaindustrie, Prävention und Früherkennung, Delinquenz und forensische Psychiatrie.
Ich empfand Finzens Ausführungen als ebenso spannend wie wichtig, und auch wenn man sich vor der Lektüre fragen mag, wie sich ein ganzes Buch allein mit dem Thema „Normalität“ füllen lässt, wird nach der Lektüre deutlich: ganz problemlos!
Finzen bietet hier nicht nur viele Informationen und zeigt, wie schwer eine Grenzziehung zwischen Normalität und Abweichung, Krankheit und Gesundheit, somatischen und psychischen Erkrankungen ist, sondern gibt auch viel Input für die weitere Beschäftigung mit dem Thema, indem er zum Nachdenken und zum Überdenken eigener Sichtweisen anregt und Themen anreißt, mit denen ich mich zukünftig gerne noch ausführlicher beschäftigen möchte.
Finzen beleuchtet das Thema von mehreren Seiten, nimmt (wie bereits bei seinem Schizophrenie-Buch) zum Teil unkonventionelle Blickwinkel ein, schaut über den Tellerrand der gängigen Psychiatrie. Er bildet dadurch die ganze Komplexität des Themas ab, kommt nicht mit einfachen Lösungen daher, die letztendlich in der Praxis scheitern müssen, weil sie nur eine Perspektive in Betracht gezogen haben, und er ist ungemein wertschätzend.
Normalität ist ein aktuelles, aber auch ein universelles Buch und ein Plädoyer dafür, dass wir (als Behandler und als Gesellschaft) aufhören sollten, in simplen Kategorien zu denken, weil Erfahrungen, Erleben, Wahrnehmung, Verhalten etc. nicht simpel sind.
„Die Hilflosigkeit der Medizin, insbesondere der Psychiatrie, bei der Abgrenzung von Gesundheit und Krankheit erstaunt und irritiert. Wie soll es da erst der Öffentlichkeit gehen? Wie soll der von medizinischem Fachwissen ‚unbeleckte‘ Laie sich zurechtfinden?“ (Seite 33)
Asmus Finzen: Normalität. Die ungezähmte Kategorie in Psychiatrie und Gesellschaft. Psychiatrie Verlag, 2018, 144 Seiten; 20 Euro.