„Die Fachleute sahen einen Vierjährigen ohne Lebensfreude. Ganz anders als das anstrengende Kind, als das ihn die Mutter beschrieben hatte.“ (Seite 36)
Die norwegische Journalistin Åsne Seierstad erzählt in Einer von uns vom 22. Juli 2011, als Anders Behring Breivik im Osloer Regierungsviertel und auf der Fjordinsel Utøya 77 Menschen tötete.
Um dem Leser ein Bild von Breiviks Kindheit, seiner Jugend, seiner Ideologie, seinen beiden Terroranschlägen, seiner Psychopathologie und der Gerichtsverhandlung zu vermitteln, hat sie u.a. Aussagen von Freunden, Verwandten, Bekannten, Opfern und deren Angehörigen sowie Breiviks Tagebuch, sein Manifest, seine eigenen Aussagen im Verhör und vor Gericht zurate gezogen.
Der Leser begleitet Breivik von seiner Geburt und seiner Kindheit mit frühen psychischen Auffälligkeiten, wenigen Bezugspersonen und viel Ausgrenzung über seine Jugendzeit als Graffitisprayer bis ins Erwachsenenalter mit verschiedenen legalen und illegalen Jobs, einem zunehmenden Rechtsruck, exzessiven Internetspielen, dem Schreiben an seinem Manifest und den Vorbereitungen seiner Attentate. Die Attentate selbst werden von Seierstad minutiös geschildert, und auch der Prozess gegen Breivik und sein Leben im Gefängnis werden detailliert wiedergegeben.
Das Buch beginnt mit einer gespenstischen Szene auf der Insel Utøya. Seierstad lässt hier die Opfer kurz vor ihrem Tod agieren und sprechen, bevor sie von Breivik erschossen wurden. Nach diesem dramatischen Einstieg erzählt Seierstad von Breiviks Leben, und man kann nicht anders, als mit dem einsamen Jungen, der so viel Ablehnung und so wenig Wärme erfahren hat, mitzufühlen und mitzuleiden. Mir hat diese Komplexität gefallen, denn es greift zu kurz, Breivik lediglich zu verteufeln, sondern es ist wichtig zu sehen, wie er zu dem geworden ist, der die beiden Attentate am 22. Juli 2011 mit einer unglaublichen Akribie planen und mit einer schier unvorstellbaren Gefühlskälte durchziehen konnte und der die Morde bis heute mit Stolz und ohne jedes Bedauern verteidigt.
Zu sehen, dass Breivik sein ganzes Leben lang Zurückweisung erlebt hat, dass er nie dazugehört hat, aber immer dazugehören wollte, dass er stets nach Anerkennung gesucht hat, rechtfertigt seine Taten nicht, macht aber besser verstehbar, wieso jemand diesen Pfad wählt, um endlich das Gefühl zu haben, etwas Besonderes zu sein, etwas „geleistet“ zu haben, das andere nicht zu „leisten“ imstande sind.
Seierstad zeigt jedoch auch sehr klar den Hass Breiviks, seine Entmenschlichung der Opfer, seine Erbarmungslosigkeit und seine kruden Rechtfertigungen, so dass sie die Person Breivik von allen Seiten betrachtet und analysiert.
Mich hat Einer von uns fasziniert und abgestoßen, berührt und wütend gemacht, neugierig auf Breiviks Persönlichkeit und seine Psychopathologie gemacht und wegen der Opfer und ihrer Familien zum Weinen gebracht.
„Er hatte kaum noch jemanden, mit dem er korrespondieren konnte. In den Briefen, die er bekam, waren die meisten Wörter mit dickem schwarzen Stift durchgestrichen. Er antwortete, obwohl er wusste, dass seine Briefe ebenfalls zensiert wurden. Langsam, aber sicher versiegte die Korrespondenz, und er bekam keine Briefe mehr. Seine Gefängniszelle war nicht der Workshop, von dem er geträumt hatte. Nur wenige Journalisten baten um Interviews. Er hatte sich vorgestellt, dass sie vor seiner Zelle Schlange stehen würden.“ (Seite 527)
Åsne Seierstad: Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders. Kein & Aber, 2016, 544 Seiten; 26 Euro.
Dieser Post ist Teil des True Crime-Monatsthemas im Dezember 2019.