„Das Leben ist schwarzweiß. Oder farblos und deshalb unsichtbar.“
Der namenlose Ich-Erzähler wächst Ende der 1960er Jahre in einem ungarischen Dorf auf. Seine Kindheit ist geprägt von Gewalt, Armut, Hunger, Trostlosigkeit und emotionaler Abgestumpftheit.
Im Dorf sind Antisemitismus und Antiziganismus an der Tagesordnung, und auch der Ich-Erzähler und seine Familie werden geächtet und ausgegrenzt.
Szilárd Borbély beschreibt in Die Mittellosen eine grausame Kindheit, die man sich kaum vorstellen kann und deren Realitätsgehalt man gerne als reine Fiktion abtun möchte. Beim Lesen des Anhangs wird jedoch schnell klar: Der Roman weist autobiografische Züge auf, und die Verarbeitung seiner eigenen Kindheitserlebnisse führten beim Autor zu einer schweren Depression, die schließlich in einem Suizid endete.
Mich hat das Buch beeindruckt und sehr bewegt. Oft wollte ich nicht weiterlesen, denn der Inhalt ist nicht nur grausam aufgrund des körperlichen und emotionalen Missbrauchs sowie der Vernachlässigung, die der Ich-Erzähler erfährt, sondern wird auch bestimmt von zahlreichen Szenen, in denen Tiere gequält oder ekelerregende Dinge berichtet werden.
Der eindringliche Schreibstil des Autors, der mit seinen kurzen Sätzen und der oft kindlichen Sprache perfekt den Erzählstil eines Kindes eingefangen hat, führt jedoch dazu, dass man immer weiter liest und das Buch trotz des oft abstoßenden Inhalts kaum zur Seite legen kann. Das erlebte Elend wird dabei meist beiläufig erwähnt, und der naive, kindliche Schreibstil wird bisweilen von expliziter, vulgärer Sprache abgelöst. All dies sorgt dafür, dass das trostlose Leben des Ich-Erzählers glaubhaft wiedergegeben wird, dass seine Gefühle und seine Gefühllosigkeit anschaulich gemacht werden, dass der Leser einen Einblick in das Leben des Ich-Erzählers erhält, der längst fast alle seine Gefühle in sich begraben und sich an das Grauen und die Grausamkeiten gewöhnt hat. Dieser Schreibstil Borbélys hat mich oft an die großartige Trilogie von Ágota Kristóf (Das große Heft, Der Beweis, Die dritte Lüge) erinnert, und auch inhaltlich finden sich meiner Meinung nach Parallelen.
Erwähnenswert finde ich zudem die Bezüge zu Primzahlen und die vielen Wiederholungen bestimmter Phrasen, die bisweilen wie eine Litanei wirken und dem Roman zusätzlich einen besonderen Anstrich geben.
Die Mittellosen ist ein trauriger und faszinierender Roman, der leider keinen Nachfolger haben wird.
Szilárd Borbély: Die Mittellosen. Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Lacy Kornitzer. Suhrkamp Verlag, 2016, 350 Seiten; 12 Euro.
Dieser Post ist Teil des Ungarn-Monatsthemas im Juni und Juli 2020.
Sehr traurig, dass er es nicht geschafft hat. 🙁
Ja, und oft sind es diese extrem begabten Menschen, die so sehr an sich zweifeln und am Leben verzweifeln.
Das ist ein so furchtbares Buch! Es ist auch ein sehr, sehr gutes Buch, aber es ist so furchtbar, das alles zu lesen. Und zu wissen, dass der Autor und seine Familie so gelebt haben. Ein sehr beeindruckender Roman!
Liebe Marion,
da hast du vollkommen recht. Ich bin immer nicht sicher, ob (und wem) ich so ein Buch empfehlen kann, aber ich finde, in mein Monatsthema „Psychische Störungen“ passt der Roman sehr gut, weil man hier sieht, wie stark die Weichen in der Kindheit gestellt werden, welche Auswirkungen Traumata haben, welche Ursachen psychische Störungen haben können. Aber es ist kein Roman, den ich unbeschwert verschenken würde…
Liebe Grüße,
Romy