„Die Grube hätte nicht geöffnet werden sollen.“ (Seite 193)
Was im ersten Band von Die Ermordung des Commendatore geschah: Nach der Trennung von seiner Frau hat sich der Ich-Erzähler in ein einsames Haus in Odawara zurückgezogen, das dem Maler Tomohiko Amada, dem Vater seines Freundes Masahiko Amada, gehört. Hier geschehen bald sonderbare Dinge, nachdem der Ich-Erzähler auf dem Dachboden das Gemälde „Die Ermordung des Commendatore“ findet, das ihn beeindruckt und fasziniert. So hört der Ich-Erzähler nachts das Gebimmel von Glöckchen, die aus einer Grube hinter einem Schrein zu kommen scheinen, er trifft den leibhaftigen Commendatore, und er malt ein Porträt des ebenso reichen wie geheimnisvollen Menschiki, der auf der anderen Seite des Tals wohnt und der ihn bald um ein weiteres Porträt bittet: das seiner mutmaßlichen Tochter Marie Akikawa.
Die Handlung des zweiten Bandes knüpft direkt an die Geschehnisse des ersten Buches an: Shiko Akikawa und ihre 13-jährige Nichte Marie verbringen den Sonntagmorgen im Haus des Ich-Erzählers, der dort die ersten Skizzen des Porträts anfertigt. Dort trifft Menschiki zum ersten Mal auf das Mädchen, das jedoch wenig Interesse an dem fremden Mann zeigt. Umso interessierter ist Marie an dem Porträt, das der Ich-Erzähler von Menschiki gemalt hat, das sich aber bereits in Menschikis Besitz befindet. Kurzerhand lädt Menschiki Marie und ihre Tante in seine Villa ein, damit sie das Bild betrachten können.
Am Abend des ersten Zusammentreffens von Marie und Menschiki steht Marie allein vor der Tür des Ich-Erzählers. Sie hat sich aus dem Haus geschlichen und ist über einen geheimen Pfad durch den Wald zum Haus des Ich-Erzählers gelaufen. Marie ist überzeugt, dass Menschiki etwas zu verbergen hat, und erzählt außerdem, dass sie auf dem Weg das Gebimmel von Glöckchen gehört hat. Daraufhin stellt der Ich-Erzähler fest, dass der Glockenstab, den er in der Grube gefunden hat, aus seinem Atelier verschwunden ist.
Mit dem Verschwinden des Glockenstabes geschehen mehr und mehr unerklärliche Dinge im Leben des Ich-Erzählers, und die Grenze zwischen Realität und Fiktion verwischt immer weiter:
„Ich nahm die Decke, legte mich auf das Sofa im Wohnzimmer und schlief ein. Dabei hatte ich einen kurzen, aber lebhaften und klaren Traum. Fast fühlte es sich an, als hätte sich ein Stück der Wirklichkeit in meinen Schlaf verirrt. Als ich aufwachte, verwandelte es sich in ein schnelles Fluchttier, um spurlos zu verschwinden.“ (Seite 145)
Nachdem ich bereits sehr begeistert vom ersten Band von Die Ermordung des Commendatore war, kann ich nach der Lektüre des zweiten Buches sagen, dass mir dieses noch besser gefallen hat und dass ich nach dem Zuschlagen sehr bedauert habe, dass die Geschichte nun schon beendet ist.
Die gekonnt eingesetzten Cliffhanger im zweiten Band haben dafür gesorgt, dass ich die 500 Seiten geradezu rastlos gelesen habe und das Buch kaum zur Seite legen konnte. Auch die Sprache, die – wie von Haruki Murakami gewöhnt – zwar einfach, aber dennoch poetisch ist, die oft unheimliche Stimmung, die geschickte Verschmelzung von Realität und Fiktion sowie die vielen Bezüge zu historischen Begebenheiten (z.B. der Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich und die Eroberung von Nanjing), zu Malerei, Philosophie und Mythologie machen das Buch zu einem echten Leseerlebnis und Murakami meiner Meinung nach zu einem würdigen Literaturnobelpreiskandidaten.
Im Verlauf des Romans wird die Geschichte, die so alltäglich begann, immer magischer und weist außerdem einen hohen Symbolcharakter auf. Murakami führt zudem alle Erzählfäden des ersten und zweiten Bandes zusammen, greift zuvor beschriebene Ereignisse, Objekte, Personen und Situationen auf und verwebt alles zu einer komplexen Geschichte, bei der nichts zufällig zu sein scheint und bei der alle Puzzleteilchen wohlüberlegt platziert wurden.
Auch äußerlich ist das Buch ein absolutes Meisterwerk: Die erste Auflage erscheint mit farbigem Schnitt in Dunkelblau, einem gelben Lesebändchen, einem mehrfarbig gestalteten Einband und einem halbtransparenten Folienumschlag.
Obwohl ich Murakamis Romane und Erzählungen schon vor vielen Jahren mit großer Begeisterung gelesen habe, hat mich erst mit Die Ermordung des Commendatore ein echtes Murakami-Fieber gepackt, so dass ich nun viele ältere Bücher des Autors erstmals bzw. erneut lesen werde.
Ein paar Wochen nach dem Lesen des Buches habe ich – wie ich es auch schon beim ersten Band des Romans gemacht habe – zudem das ungekürzte Hörbuch gehört, das von David Nathan exzellent und überzeugend gelesen wird. Die Lesung durch ihn klingt so magisch, dass es meiner Meinung nach keinen besseren Sprecher für eine Murakami-Geschichte geben könnte. Er interpretiert Murakamis Roman überzeugend, und seine Stimme ist so angenehm, dass man stundenlang der Geschichte lauschen möchte. Er hat mir den Roman ein zweites Mal nahegebracht, mich erneut fasziniert und begeistert.
Ich bin mir sicher, dass ich die beiden Teiles von Die Ermordung des Commendatore noch mehrmals lesen und hören werde, weil die Geschichte einfach unglaublich komplex ist und ebenso komplex gelesen wird.
Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore. Band 2: Eine Metapher wandelt sich. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. DuMont Literaturverlag, 2018, 496 Seiten; 26 Euro.
Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore. Band 2: Eine Metapher wandelt sich. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Ungekürzte Lesung von David Nathan. Hörbuch Hamburg, 2018; 26 Euro.
Dieser Post ist Teil des Japan-Themas im April 2018.