„Auch das würde ich nie erfahren, über nichts würde ich je etwas erfahren, weder wo er gewesen war, noch was er getan hatte, und ich fing an, mich damit abzufinden, dass es immer so sein würde, wenn ich mit ihm zusammenblieb. Aber ich hatte keinen anderen Plan im Leben, als mit ihm zusammenzubleiben […].“ (Seite 274)
Tomás Nevison – halb Spanier, halb Engländer – ist ein Sprachtalent, und so geht er nach der Schulzeit in Madrid zum Studium nach Oxford. Seine Freundin Berta Isla bleibt in Madrid, und nach Tomás‘ Rückkehr nach Madrid heiraten die beiden und bekommen zwei gemeinsame Kinder. Doch seit seiner Oxford-Zeit hat sich Tomás verändert, ist noch undurchschaubarer und geheimnisvoller als zuvor.
Was Berta nicht weiß, ist, dass Tomás in Oxford von seinem Professor Peter Wheeler für eine Geheimdiensttätigkeit angeworben wurde. Zwar hat Tomás anfangs abgelehnt, aber als seine Affäre Janet kurz nach seinem Besuch bei ihr ermordet wurde und Tomás unter Tatverdacht gerät, helfen ihm Wheeler und dessen Bekannte aus der Klemme, und so beginnt Tomás‘ Doppelleben, in dem er immer wieder auf Reisen geht, längere Zeit aus Madrid verschwindet, Berta und seine Kinder in Unwissenheit und Ungewissheit zurücklässt, ein Leben im Geheimen und mit unterschiedlichen Identitäten führt.
Javier Marías ist mit Abstand mein Lieblingsautor, seinen wunderbaren Roman Mein Herz so weiß habe ich an die sechs Mal gelesen, und ich liebe Romane wie Morgen in der Schlacht denk an mich, Die sterblich Verliebten und So fängt das Schlimme an sowie viele seiner Erzählungen.
Marías‘ Romane beginnen oft mit einem Paukenschlag, danach flacht die Spannung über eine recht weite Strecke ab, so dass man einen etwas längeren Atem beweisen muss, und irgendwann kommt der Moment, an dem es kein Halten und keine Lesepause mehr geben kann, weil Marías seine Geschichte so packend erzählt, dass man nur noch gebannt weiterlesen kann. Typisch sind auch die Zitate von William Shakespeare, die sich durch den gesamten Roman ziehen, Themen, die immer wieder aufgegriffen werden und den roten Faden des Romans darstellen. Auch lange Schachtelsätze findet man typischerweise in Marías‘ Büchern, die den Lesefluss etwas verlangsamen, die man sich aber immer wieder anstreicht, weil sie so pointiert sind.
Viele der oben genannten Eigenschaften weist auch Berta Isla auf, doch bereits der Einstieg in Marías‘ neuesten Roman ist anders als von ihm gewohnt: Das erste Kapitel habe ich nicht als Paukenschlag empfunden, sondern als eher kryptisch. Der weitere Verlauf zeigt kein Abflachen der Spannung, sondern die Handlung ist durchweg fesselnd, bleibt auf dem immer gleichen Niveau, bis sie ab der Hälfte des Romans rasant zunimmt. Gegen Ende kommt der für Marías bekannte Twist, der vollkommen aus dem Nichts kommt, aber dennoch durch und durch plausibel ist.
Auch in Berta Isla schreibt Marías in seinem unverwechselbaren Stil, doch das Buch lässt sich deutlich schneller lesen als vorherige Romane. Dies liegt sicherlich zum großen Teil am gelungenen Spannungsbogen, an der überzeugenden Beschreibung von Bertas und Tomás‘ Leben und den eindringlichen Schilderungen ihres gemeinsamen Lebens. Dabei sind Bertas Sorge um Tomás, ihre Ambivalenz beim langen Warten, die Zerrissenheit Tomás sowie die Beziehungsdynamik zwischen den beiden hervorragend dargestellt und weisen eine emotionale Tiefe auf, auf die man in Romanen meiner Meinung nach selten trifft, die für Marías allerdings typisch ist.
Erst spät tauchen in Berta Isla Bezüge zu Shakespeare (diesmal Heinrich V) sowie zu Honoré de Balzacs Oberst Chabert (ein Thema, das Marías bereits in Die sterblich Verliebten bearbeitet hat) auf, doch dann ziehen sich diese Themen durch den gesamten restlichen Roman, bilden das Fundament von Marías‘ Geschichte und weisen die Richtung dieses großartigen Agenten- und Liebesromans.
Ich würde nicht so weit gehen, dass Berta Isla Marías‘ bester Roman ist, denn dafür liebe ich Mein Herz so weiß zu sehr, und ich finde, dass Berta Isla (allein aufgrund des Spannungsbogens) kein ganz typischer Marías ist, so dass ich die beiden Romane nicht recht vergleichbar finde. Berta Isla ist aber zweifelsohne ein neues Meisterwerk von Marías und ein Roman, den ich sehr empfehlen kann und den ich sicherlich wieder und wieder lesen werde.
Javier Marías: Berta Isla. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S.Fischer Verlag, 2019, 656 Seiten; 26 Euro.
Dieser Post ist Teil des Spanien-Monatsthemas im Mai 2019.