„Das Problematische an unserer gegenwärtigen Situation in der Psychiatrie ist, dass schlechte Krankheitsverläufe häufig der Biologie und der „Erkrankung“ selbst (oder der krankheitsbedingt unzureichenden Therapietreue) und weniger unserem Umgang damit oder gar unseren Therapien angelastet werden.“ (Seite 20)
Stefan Weinmann ist Psychiater. Er weiß, wovon er spricht und was er kritisiert, ist mittendrin, kennt die Krankheitsbilder, die Behandlung, die Versorgungslage und die Forschungsergebnisse im Bereich der Psychiatrie. Das hat mich beim Lesen seines Buches von Anfang an begeistert und beeindruckt. Hier schwimmt jemand gegen den Strom, der genauso gut mit ihm schwimmen könnte, so wie es die breite Masse in der Psychiatrie tut.
Weinmann erklärt anhand von psychologischen Phänomenen wie self-serving bias und kognitiver Dissonanz, warum sich bestimmte Überzeugungen in der Psychiatrie so hartnäckig halten, welche Befunde gegen die gängige Praxis der Behandlung sprechen, warum wir trotzdem wie gehabt weitermachen. Dabei geht er u.a. auf Publikationsbias, die Verteilung von Forschungsgeldern, die strenge Unterscheidung zwischen Gesunden und psychisch Kranken, unter den Tisch gekehrte Studienergebnisse und weit verbreitete Probleme im Zusammenhang mit Pharmastudien ein und bietet zudem Lösungen für eine bessere Behandlung an.
Weinmann spielt in seinem Buch nicht die „sozialen“ gegen die „biologischen“ Theorien und Behandlungsansätze psychischer Auffälligkeiten aus. „Es geht vielmehr um die in kognitiven Mustern von Therapeuten, Forschern und anderen psychiatrisch Tätigen angesiedelten Gründe für einseitige Entwicklungen in der Psychiatrie und um die Mechanismen und (meist negative) Auswirkungen einer auf Vor-Urteilen basierenden „Behandlung“ und „Versorgung“. […] Und es geht um ein Konzept, wie Menschen mit schweren psychosozialen Beeinträchtigungen besser geholfen werden kann als mit einer Langzeitverschreibung von Medikamenten, flankiert von individualpsychotherapeutischen Behandlungsversuchen und einer langfristigen Eingliederung in ein Institutionensystem, das ihnen nicht selten Initiative, Perspektive und positiven Stress wegnimmt und sie im besten Fall auf niedrigstem Niveau „stabilisiert“.“ (Seite 23f)
Ich bin selbst Psychologin und arbeite seit vielen Jahren in der Hirnforschung und im Bereich der Psychiatrie, und ich habe schon oft die Sinnhaftigkeit bestimmter Behandlungsmethoden (vor allem die Langzeitbehandlung mit Psychopharmaka ohne begleitende psychotherapeutische Behandlung, besonders bei der Schizophrenie) angezweifelt und kritisiert. Weinmann geht in seiner Kritik und in seinen Überlegungen jedoch deutlich weiter und tiefer, als ich das bislang getan habe, und setzt sich mit der Thematik ausführlicher auseinander. Ich empfand das Buch als regelrechte Offenbarung, und es stimmt mich hoffnungsvoll, dass es Behandler wie Weinmann und Bücher wie Die Vermessung der Psychiatrie gibt, so dass sich bezüglich der Behandlung von psychischen Störungen in Zukunft hoffentlich (und endlich!) etwas zum Besseren wendet.
Ich habe das Buch recht langsam gelesen, nicht weil es anstrengend zu lesen oder kompliziert geschrieben ist, sondern weil das Gelesene Zeit braucht, um zu sacken. Zwar wiederholt der Autor bestimmte Thesen, Befunde, Überlegungen im Verlauf, aber trotzdem ist das Buch sehr dicht geschrieben, enthält viele Informationen und ist zudem kontrovers, so dass ich nicht das Gefühl hatte, dass ich die Inhalte stets mühelos in mein vorhandenes Wissen integrieren kann, sondern dass mein eigenes Bild und mein Verständnis von Psychiatrie durch die Lektüre immer wieder durcheinandergebracht wurde. Dies ist passiert, obwohl ich mich bislang für jemanden gehalten habe, die in ihren Einstellungen zu Medikamenten, Stigmatisierung, Ausgrenzung von Menschen mit psychischen Störungen etc. kritisch ist und das Fachgebiet (nicht nur durch die eigene Arbeit im Bereich, sondern auch aufgrund von Erfahrungen im privaten Umfeld) differenziert betrachtet.
Die Vermessung der Psychiatrie ist ein kluges und mutiges Buch, das informiert, erklärt, hinterfragt und dabei den Nagel auf den Kopf trifft. Mich hat das Buch oft aus der Spur gebracht und mir neue Perspektiven gezeigt, weswegen ich ihm viele Leser wünsche und hoffe, dass die Lektüre des Buches auf viele Menschen große Auswirkungen hat.
„Der Graben zwischen denen, die es geschafft haben und ihr Leben in die Hand nehmen, indem sie entweder nie in die Psychiatrie gekommen sind, eine behutsame psychiatrisch-psychotherapeutische Unterstützung nutzen oder die Psychiatrie hinter sich gelassen haben, und jenen, die es nicht geschafft haben und zum Spielball psychiatrischer Interessen oder zum Objekt von mehr oder weniger Behandlungsversuchen geworden sind, scheint tiefer zu werden. Dabei gibt es eine Reihe erfolgreicher Modelle, wie wir helfen können, Chronifizierung zu vermeiden und Anreize für positive Lebensgestaltung trotz Vorliegen von Symptomen zu setzen. Dies zu realisieren erfordert Mut und einen Bruch mit vermeintlichen Gewissheiten. Es erfordert die Akzeptanz des Betroffenen als des Verschiedenen, aber nicht grundsätzlich Anderen.“ (Seite 24)
Stefan Weinmann: Die Vermessung der Psychiatrie. Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets. Psychiatrie Verlag, 2019, 288 Seiten; 25 Euro.
Das hört sich richtig gut an. Das werde ich mir mal über die Fernleihe bestellen.
Liebe Grüße und danke für die Vorstellung
Petrissa
Sehr gerne! Seit ich das Buch angelesen hatte, habe ich mich darauf gefreut, es vorzustellen und zu empfehlen. Liebe Grüße an dich!