„Das Drama, das eine erste Psychose auslöst, ist erheblich. Für einen selbst ist es ein unbegreiflicher, allumfassender Kick, der einen in himmelschreiende Sphären schleudert; für Freunde und Familie ist es die blanke Tragödie. Aus dem Nichts wird da einer, den man anders kennt, verrückt, buchstäblich verrückt, und zwar genauer, realer, peinlicher, als es in den Filmen, den Büchern gezeigt wird, wird wahnsinnig wie ein wildäugiger Penner, der den Straßenverkehr beschimpft, wird dumm, töricht, unheimlich. Aus dem Nichts wird der Freund zum Fremden an sich.“ (Seite 65)
Thomas Melle erzählt in Die Welt im Rücken von seiner Bipolar-I-Störung, die 1999 zu einem ersten Krankenhausaufenthalt führte. Melle berichtet vom Verlauf der Erkrankung, von Kontrollverlust und Erinnerungslücken, von manischen und depressiven Phasen, von Paranoia und Beziehungsideen, von verschiedenen Formen bipolarer affektiver Störungen, von Symptomen, Suizidalität und zerstörten Freundschaften.
Wenn ich bei der klinisch-psychologischen Diagnostik nach euphorischen/manischen Phasen im Leben des Interviewten frage, höre ich bisweilen die etwas bedauernde Antwort „Leider nicht!“. Melles Buch zeigt sehr klar, dass eine Manie für Laien besser und unterhaltsamer klingt, als sie letztendlich ist. Melle macht in Die Welt im Rücken das Leiden, die Schwierigkeiten, das Bedrückende und das Ausgrenzende einer Manie deutlich, wobei er zudem die depressiven Phasen eingängig beschreibt und beinahe einfühlbar macht.
Der Einstieg ins Buch ist packend, doch sprachlich hat es mir der Autor zu Beginn nicht einfach gemacht. Der abgehackte Telegrammstil, der sich mit Bandwurmsätzen abwechselt, liest sich anstrengend, obgleich er gleichzeitig extrem authentisch ist. Melle gelingt es hier außerordentlich gut, so zu schreiben, wie er in manischen Phasen spricht, denkt, von einem Thema zum nächsten springt, nirgends länger verweilt. Die typische Ideenflucht in der Manie wird hier exzellent beschrieben bzw. regelrecht gelebt und dadurch erlebbar gemacht, was ich im weiteren Verlauf immer beeindruckender und überzeugender fand.
Auch die depressiven Phasen wurden von Melle sprachgewaltig umgesetzt und beschrieben. Er findet für seine Gedanken und Gefühle sowie für die Gegensätze Manie – Depression stets die passenden Worte, das richtige Tempo und einen stimmigen Ausdruck.
Melle geht sehr offen mit der Störung und seinen Symptomen um, scheint keine Scheu zu kennen und keine Konsequenzen zu fürchten, wodurch er mit Die Welt im Rücken einerseits auf ganzer Linie überzeugt, und dem Leser andererseits einzigartige und wertvolle Einblicke in eine Bipolar-Störung gewährt. Dabei zeigt er außerdem auf eindrückliche Weise, wie seine Bipolar-I-Störung zu sozialem Abstieg, zu finanziellem Ruin und zu großer Isolation geführt hat.
Bei der Lektüre von Die Welt im Rücken spürt man die Rastlosigkeit der Manie, die Niedergeschlagenheit und Gefühllosigkeit der Depression, die Belastung durch den Wechsel zwischen diesen Extremen sowie den immer wieder aufkommenden, verzweifelten Wunsch des Autors, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Das ist bemerkenswerte Literatur, die einen bedrückenden Einblick in eine Bipolar-Störung ermöglicht, und ein Buch, das ich jedem ans Herz legen möchte.
Thomas Melle: Die Welt im Rücken. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2018, 347 Seiten; 12 Euro.
Dieser Post ist Teil des Monatsthemas „Psychische Störungen“ im Februar 2019.