Ich bin nicht da von Lize Spit

„Mir fiel niemand ein, den ich jetzt um Rat hätte bitten können, niemand, den ich bitten könnte, Simon genau zu beobachten, ob er etwas Merkwürdiges sehe, denn es gab keinen Menschen, der Simon kannte, wie ich ihn inzwischen kannte, der so ein vollständiges Bild von ihm hatte, dass ich seinem Urteil glauben würde.“ (Seite 50)

Simon kommt eines Nachts nach Hause und wirkt auf Leo, mit der er schon zehn Jahre liiert ist, sonderbar verändert: beschleunigt, reizbar.

Er hat sich spontan ein Tattoo stechen lassen, kündigt seinen Job, setzt auf einen völlig neuen beruflichen Pfad, sprudelt über vor Ideen, überlegt nicht lange, lässt sich treiben und mitreißen.

Im Verlauf wird Simon immer argwöhnischer, sieht Dinge in Beziehung zu sich stehen, findet Zusammenhänge, wo kein anderer Zusammenhänge sieht, entfremdet sich mehr und mehr von Leo.

Ich habe vor ein paar Jahren Und es schmilzt von Lize Spit gelesen, war von ihrem Debütroman ziemlich schockiert, aber stellenweise auch sehr fasziniert, insgesamt aber auch etwas ratlos, wie ich den Roman denn nun eigentlich fand. Mit Ich bin nicht da hat sich Spit aber mitten in mein Herz geschrieben, denn sie behandelt hier ein Thema, das mir sehr wichtig ist.

Von Anfang an empfand ich den Roman als grandios erzählt und sowohl Simons Veränderung als auch die Dynamik zwischen ihm und Leo überzeugend dargelegt. Spit zeigt hier nicht nur auf sehr lebendige Weise, wie sich eine psychische Störung entwickeln kann, sondern macht auch die Einschlagkraft spürbar, die Simons Wandel und seine Symptomatik für ihn, für Leo, für ihre Beziehung und für ihre Umwelt haben.

Ich empfand den Roman fast als ein Wunder, denn die Schilderungen decken sich sehr mit meiner klinischen Erfahrung, sind so glaubwürdig, so nah dran am Erleben, so detailgenau wiedergegeben, dass Spit entweder außergewöhnlich gut recherchiert hat oder der Roman autobiografische Züge aufweist.

Ich war beim Lesen einerseits beeindruckt von Spits Beobachtungsgabe und wie sie die passenden Worte findet, andererseits sehr bewegt und berührt von Ich bin nicht da. Ein Lieblingsbuch 2022.

Lize Spit: Ich bin nicht da. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. S. Fischer, 2022, 576 Seiten; 26 Euro.

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