Gott wohnt im Wedding von Regina Scheer (Hörbuch)

„Die meisten denken, ein Haus sei nichts als Stein und Mörtel, totes Material. Aber sie vergessen, dass in meinen Wänden der Atem von all denen hängt, die hier gewohnt haben. Ihre Tränen, ihr Blut habe ich aufgesogen, ich habe ihre Schreie gehört, ihr Flüstern, ihr endloses Gemurmel in den Nächten. All ihre Leben habe ich in mich aufgenommen, durch sie lebe ich selbst, auf meine Weise.“ (Track 2)

In der Utrechter Straße im Berliner Wedding steht ein altes Haus, das um 1890 gebaut wurde, in das seit 115 Jahren die unterschiedlichsten Menschen ein- und ausgehen, und das nun aufgrund der Gentrifizierung dem Untergang geweiht ist.

Zu diesem Haus kehrt im Jahre 2015 Leo Lehmann in Begleitung seiner Enkelin Nira zurück, um Erbangelegenheiten zu klären. Leo, ein Jude, ist damals als sogenanntes „U-Boot“ bei Gertrud Romberg untergekommen, die nach wie vor im gleichen Haus lebt. Leo verbindet zahlreiche Erinnerungen mit dem Haus, u.a. wurde sein Freund Manfred hier vor mehr als 70 Jahren von der Gestapo abgeholt, und Leo fragt sich seitdem, ob Gertrud ihn verraten hat.

Wenn man viel liest, hat man bisweilen das Gefühl, man habe jede Geschichte schon einmal so ähnlich gehört und Autoren können einem nur schwer etwas ganz Neues erzählen. Und dann hört man Gott wohnt im Wedding und weiß vom ersten Moment an, dass das hier anders ist, das hier auf eine Art und Weise erzählt wird, die man noch nicht x-Mal gelesen hat: Ein Haus selbst erzählt seine Geschichte.

Ich empfand Gott wohnt im Wedding als ein wunderbares und ein besonderes Buch. Dies liegt nicht nur an der bereits erwähnten Erzählweise, sondern auch daran, dass Regina Scheer hier so viel einfließen lässt, ohne dass man das Gefühl bekommt, sie habe sich verzettelt und zu viel gewollt.

Scheer lässt anhand der Geschichten der Hausbewohner ganze Epochen wiederauferstehen, erzählt die Geschichte Deutschlands, Berlins, des Weddings, der Utrechter Straße, des Hauses, stellt verschiedene Sinti und Roma vor, begleitet sie auf ihrem Lebensweg, berichtet von der Shoa und vom Porajmos. Aber damit nicht genug, denn sie erzählt zudem von Flucht und Migration, vom Verlust der Heimat und von Heimkehr, von Schuld und von Sühne, von jahrzehntelangem Schweigen, von Trauer und Verlust, von der Vertreibung durch Krieg und Verfolgung sowie von Gentrifizierung, der Vertreibung durch Profitgier.

Ich fand es nicht immer einfach, der Geschichte zu folgen, denn Scheer wechselt zwischen Zeitebenen und Handlungssträngen, doch die Idee mit dem Haus als Erzähler der Geschichte wurde so grandios umgesetzt, die Figuren wurden so lebensnah gezeichnet, die Handlungsebenen so gelungen miteinander verwoben, und der Roman ist inhaltlich und stilistisch so beeindruckend, dass ich immer weiter gehört habe, mich habe treiben lassen, in Gedanken durch den Wedding gewandert bin.

Auch die (gekürzte) Lesung durch Johann von Bülow kann ich jedem sehr ans Herz legen. Trotz einer Länge von fast 12 Stunden hatte ich nie das Gefühl, dass der Roman langatmig ist, (weitere) Stellen verzichtbar seien.

Gott wohnt im Wedding werde ich definitiv ein zweites Mal hören oder lesen, und ich kann diesen komplexen, eindringlich erzählten, besonderen Roman sehr empfehlen.

Regina Scheer: Gott wohnt im Wedding. Gekürzte Lesung von Johann von Bülow. der Hörverlag, 2019; 24 Euro.

Dieser Post ist Teil des Nomadenleben-Monatsthemas im Februar 2021.

Dazu hab ich auch was zu sagen!