„Letztlich steckt man nie im Kopf von anderen Menschen.“ (CD 6, Track 18)
Als ich 18 Jahre alt war, habe ich im Rahmen einer Krankenpflegeausbildung in der Arbeits- und Beschäftigungstherapie mit forensischen Patienten gearbeitet – mit Mördern Körbe geflochten und Vergewaltigern an der Kreissäge assistiert. Dort hat ein rauer Umgangston geherrscht, und ich bin dadurch mit einem Milieu in Verbindung geraten, in das man als Normalsterblicher normalerweise (und glücklicherweise) kaum Zutritt erhält. Schon vorher haben mich Geschichten aus dem Gefängnis und der Forensik, Schilderungen von Gerichtsverfahren, das bisweilen schwierige Abwägen der Schuldfrage und ähnliche Themen interessiert, aber seit dieser persönlichen Erfahrungen hatte sich mein Interesse noch verstärkt, so wie das oft ist, wenn man Einblicke in eine bislang fremde und völlig andersartige Welt erhalten hat. Gangsterblues hat mir sehr gut gefallen, denn das (Hör-) Buch schlägt genau in diese Kerbe und bietet dem Leser/Hörer die Möglichkeit, in den Gefängnisalltag zu schauen und mehr über Strafvollzug zu lernen.
Joe Bausch, Gefängnisarzt in der Justizvollzugsanstalt Werl, liest sein Buch Gangsterblues selbst vor, was ich als sehr gelungen empfand, denn so kann er seinen Geschichten die Intonation und den Fokus geben, den er selbst beim Schreiben als passend empfunden hat. Zudem ist die tiefe Stimme Bauschs meiner Meinung nach adäquat für die Knastgeschichten, die er dem Hörer erzählt.
Bausch berichtet in seinen Buch von Schuld und Unschuld, Manipulation und Lüge, Maskulinität und Sentimentalität, Sicherungsverwahrung und Bewährung, Psychosen und Persönlichkeitsstörungen, Zwillingsforschung und familiärer Häufung von Delinquenz. Er bietet dabei nicht nur viel Spannung und einen gewissen Nervenkitzel, sondern auch Einblicke in Psychiatrie und Forensik.
Bausch erzählt seine Knastgeschichten auf anspruchsvolle Weise, und obwohl sich die Geschichten inhaltlich sehr voneinander unterscheiden und mir auch nicht alle gleich gut gefallen haben, sind die meisten von ihnen sehr packend und auch aus psychologischen Gesichtspunkten spannend, denn sie lassen einen verstehen, wieso Menschen so werden, wie sie sind, und wie und warum sie delinquent werden.
Auch wenn ich die Einführung in die Psychiatrie sehr gelungen fand, war ich bezüglich Bauschs Ausführungen zur Schizophrenie eher enttäuscht, denn er tut, was oft getan wird: Er beschreibt die Störung eher oberflächlich und reißerisch, wird der Schizophrenie mit ihren vielen Facetten und ihrer Komplexität nicht gerecht, sondern fokussiert auf unheimliche Wahninhalte und Gewaltfantasien, die den Leser und Hörer eher gruseln statt ihn sachlich aufklären sollen. Dies liegt im Buch sicherlich an der Tatsache, dass der Betroffene komorbid an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung erkrankt ist, die für die charakteristische Empathielosigkeit und Skrupellosigkeit sorgt. Ich hätte mir aber trotzdem gewünscht, dass die Schizophrenie, die bereits genug stigmatisiert und falsch verstanden wird, hier eine etwas ausgefeiltere Erwähnung mit mehr Tiefe und mehr Feingefühl erfährt und psychopathologisch besser von der antisozialen Persönlichkeitsstörung abgegrenzt wird, denn man kann von einem Laien, der das Buch liest/hört natürlich nicht erwarten, dass er die beiden Störungen voneinander trennen und die erwähnte Symptomatik korrekt der Schizophrenie bzw. der antisozialen Persönlichkeitsstörung zuschreiben kann.
Joe Bausch: Gangsterblues. Gelesen vom Autor. Hörbuch Hamburg, 2018; 20 Euro.
Dieser Post ist Teil des True Crime-Monatsthemas im Dezember 2019.