Der Zahlendieb. Mein Leben mit Zwangsstörungen von Oliver Sechting

„Das seltsame Gefühl wurde zu Angst. Aus der einfachen Regel […] wurde ein Regelwerk, dessen Vorschriften mir unkontrolliert in den Sinn kamen und ihre strikte Befolgung verlangten.“ (Seite 34)

Oliver Sechting beginnt recht früh damit, Stifte etc. nach einer bestimmten Ordnung zu sortieren und das Treten auf Fugen zu vermeiden, doch nach dem Entdecken der eigenen Homosexualität und dem Tod des Vaters verstärken sich diese leichteren Auffälligkeiten, werden drängend, bekommen eine starke emotionale Komponente und sind an ein komplexes und starres Regelwerk gekoppelt, dessen Verletzung extreme Ängste auslöst.

Die Angst übernimmt Sechtings Leben. Sie taucht in immer neuen Situationen auf, dominiert seinen Alltag, und mit der Angst kommen mehr und mehr Zwangshandlungen, mit denen er versucht, die Angst zu reduzieren.

Im Laufe seines Lebens fluktuieren Sechtings Angst und seine Zwangshandlungen, sind abhängig von äußeren Einflüssen und depressiven Phasen, aber sie holen ihn immer wieder ein, lähmen ihn und reißen ihn aus seinem Alltag.

In Der Zahlendieb erzählt Sechting vom Beginn und dem Verlauf seines Leidens, von wichtigen Stationen seines Lebens und davon, wie er gelernt hat, mit Angst, Zwang und Depression zu leben.

Zwangsstörungen gehören zu den psychischen Erkrankungen, über die besonders gerne Witze gemacht und die oft als lachhaft abgetan werden, bei denen Laien oft keine Vorstellung davon haben, wie viel Leid sie verursachen, wie sehr sie belasten und wie sehr sie das Leben der Betroffenen einschränken. Deshalb finde ich ein Buch wie Der Zahlendieb so wichtig, denn hier erfährt man im Detail, wie es sich anfühlt, wenn man durch extreme Kontrolle die Kontrolle über das Leben verliert.

Sechting erzählt minutiös und sehr reflektiert von seinen Zwangssymptomen, aber auch von begleitenden Problemen wie Angst, Depression und psychotischen Episoden.

Mich haben seine entwaffnende Ehrlichkeit und seine unglaubliche Offenheit sehr beeindruckt. Er zeigt in seinem Buch auf sehr anschauliche und eingängliche Weise, wie ausgeprägt sein Leiden ist und in welchen Teufelskreis er geraten ist. So lässt er den Leser verstehen, was bei einer Zwangsstörung im Betroffenen vor sich geht und dass seine Erfahrungen, Gefühle und Gedanken weit entfernt sind von den amüsanten Schilderungen, die man in Büchern und Filmen antrifft und die man in der Allgemeinbevölkerung mit Zwängen assoziiert.

Sechting zeigt außerdem sehr eindrucksvoll, dass verschiedene psychische Störungen oft gemeinsam auftreten und wie sie sich gegenseitig beeinflussen, so dass sein Buch nicht nur über Zwangsstörungen, sondern auch über psychische Störungen im Allgemeinen aufklärt und viel Wissen zum Thema vermittelt.

Oliver Sechting mit Karen-Susan Fessel: Der Zahlendieb. Mein Leben mit Zwangsstörungen. BALANCE buch + medien verlag, 2017, 190 Seiten; 16 Euro.

Dieser Post ist Teil des Monatsthemas „Psychische Störungen“ im Februar 2019.

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