„Sie ist euphorisch, wie Betrüger es sind, die man noch nicht entlarvt hat. Voller Dankbarkeit, geliebt zu werden, und starr vor Angst bei der Vorstellung, all das zu verlieren.“ (Track 22)
Adèle lebt mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn im 18. Arrondissement in Paris, arbeitet in einer Redaktion, hat anscheinend alles, was man sich wünschen kann.
Doch Adèle fühlt nichts als Leere, und sie versucht, diese Leere durch wahllosen Sex mit unzähligen Männern zu füllen. Sie führt ein Doppelleben zwischen ihrem gesellschaftlich akzeptiertem Leben als Ehefrau, Mutter und Journalistin und dem Leben, in dem sie immer wieder (sexuelle) Grenzen überschreiten muss. Sie ist getrieben, die Suche nach etwas, das die Leere füllt, hat Suchtcharakter und bringt sie dazu, alles zu riskieren und alles in Frage zu stellen.
All das zu verlieren ist das Debüt der französisch-marokkanischen Schriftstellerin Leïla Slimani und meine erste Begegnung mit ihr. Ich empfand das (ungekürzte) Hörbuch als sehr überzeugend und authentisch, so dass ich sicherlich mehr von Slimani lesen oder hören werde.
Das Hörbuch wird von Nora Waldstätten anspruchsvoll gelesen, und die Sprecherin trifft die Stimmung des Buches meiner Meinung nach perfekt, liest unaufgeregt, aber dennoch gefühlvoll und alles andere als eintönig.
Die Geschichte um Adèle wird eindringlich und in schnörkelloser Sprache erzählt. Die Charakterisierung Adèles als eine Frau, die anscheinend alles erreicht hat, was man erreichen möchte, aber dennoch ausbrechen möchte bzw. muss, als jemand, der an seinem routinierten Leben fast erstickt und der verzweifelt versucht, diese unerträgliche Leere zu füllen, hat mich so sehr bewegt und berührt, wie wenige Bücher in den letzten Monaten.
Dabei empfand ich das Buch lange Zeit wenig schockierend, zumal es nie obszön, billig oder pornografisch wird, obwohl Slimani detailliert von Adèles sexuellen Erlebnissen berichtet. Recht spät im Hörbuch kam aber dennoch ein Schockmoment, als Slimani von einem Ausmaß an Brutalität erzählt, der nur schwer zu ertragen war.
Nichtsdestotrotz empfand ich genau diese Schilderung von Gewalt notwendig und angebracht, um Adèles Leiden und ihr übermächtiges Getriebensein verstehen zu können, und unentbehrlich, um Adéles Geschichte vollkommen authentisch zu erzählen.
All das zu verlieren ist keine leichte Kost und kein (Hör-) Buch für zwischendurch, sondern das Psychogramm einer Frau auf der Suche nach sich selbst, die sich dadurch immer mehr verliert.
Leïla Slimani: All das zu verlieren. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Ungekürzte Lesung mit Nora Waldstätten. der Hörverlag, 2019; 22 Euro.
Dieser Post ist Teil meines Monatsthemas „Sex und Gewalt“ im Dezember 2020.
Mich hat dieses Buch auch berührt und lange beschäftigt. Mir hat schon das vorherige Buch „Dann schlaf auch du“ sehr gut gefallen, obwohl es auch keine leichte Kost ist. Aber sie schafft es einfach, wichtige und schwierige Themen „unterhaltsam“ anzusprechen. Liebe Grüsse Vera
Liebe Vera,
vielen Dank für deinen Kommentar. „Dann schlaf auch du“ liegt noch ungelesen hier und wandert jetzt ganz weit nach oben auf den Lesestapel. Danke für den Reminder.
Liebe Grüße,
Romy