„Die Mulackstraße schien ihr wie eine Kulisse im Theater, wie ein Überbleibsel aus dem Berlin des letzten Jahrhunderts. Drüben an der Börse, wo sie gerade herkam, glitzerte die Stadt mit ihren modernen Kaufhäusern, den prachtvollen Plätzen und erlesenen Restaurants. Dort lag die neue Mitte Berlins. Doch nur wenige Meter entfernt hatte man das Gefühl, durch ein Schtetl im tiefsten Russland zu wandern.“ (Track 9)
Berlin im Jahre 1923: Die Hebamme Hilda Gold betreut eine junge Frau im Scheunenviertel, die in eine jüdische Familie eingeheiratet hat und nun zum ersten Mal schwanger ist.
Kurz nach der Geburt verschwindet der Neugeborene spurlos. Teilt der Junge ein ähnliches Schicksal wie die vielen entführten Kinder, die zum Arbeiten oder an kinderlose Familien weiterverkauft werden? Oder steckt die Schwiegermutter der jungen Frau dahinter, die die Nicht-Jüdin ablehnt und sich für ihren Sohn eine andere Frau wünscht?
Ich habe bereits den ersten Band der Hilda Gold-Reihe mit großer Begeisterung als Hörbuch gehört und mag Geschichten, die im Berlin der 1920er und 1930er Jahre spielen sehr, so dass ich natürlich auch den zweiten Band der Reihe hören wollte.
Auch Scheunenkinder hat mir ausgesprochen gut gefallen. Anne Stern erzählt nicht nur eine spannende Geschichte um Hulda und das Scheunenviertel, sondern beschreibt auch anschaulich, wie das Leben durch die Hyperinflation geprägt wurde, wie das jüdische Leben in Berlin vor der Shoah aussah, wie der Antisemitismus immer mehr erstarkt und zunehmend salonfähig wird, und welche Sorgen und Nöte die Menschen in den Jahren zwischen den Weltkriegen umtrieben. Dabei sind die Schilderungen stets stimmungsvoll, lebendig, die Protagonisten authentisch.
Das (gekürzte) Hörbuch wird von Anna Thalbach gelesen, deren Stimme und Interpretation perfekt zur Geschichte passt.
Ich freue mich schon auf den dritten Teil, der im April 2021 erscheint.
Anne Stern: Fräulein Gold. Scheunenkinder. Gekürzte Lesung von Anna Thalbach. Argon Verlag, 2020; 19,95 Euro.