„am liebsten würde ich rückwärtslaufen, das Leben zurückspulen und dich vielleicht noch retten“ (Seite 39)
Das erste Jahr nach dem Tod eines Nahestehenden ist die schwierigste Zeit nach diesem Verlust. Danach hat man alles zum ersten Mal ohne die andere Person erlebt: das erste Weihnachten, den ersten Jahresbeginn, den ersten eigenen Geburtstag, den ersten Geburtstag des Verstorbenen, den ersten Jahrestag des Tages, an dem man zum letzten Mal mit dem Verstorbenen gesprochen hat, und des Moments, in dem man vom Tod erfahren hat. Bei einem Tod durch Suizid hat man neben der Trauer mit weiteren Gefühlen zu kämpfen, die mit der Zeit zwar weniger werden, aber nie ganz verschwinden. Allen voran: Schuld und Wut.
Genauso fühlt sich die Ich-Erzählerin in Isabel Bogdans Roman Laufen: traurig, verzweifelt, schuldig, einsam, wütend. Ein Jahr ist vergangen, seit sich ihr Lebensgefährte suizidiert hat, und nun hat sie wieder mit Laufen begonnen. Jeder Schritt ist eine Qual, doch sie zwingt sich zum Weiterlaufen und zum Weiterleben. Und mit der Zeit gewöhnt sie sich nicht nur an das Laufen, sondern auch an die Vorstellung eines Lebens ohne ihn.
„Aber das ganze Leben, dieses mickrige, kleine Scheißleben erinnert mich permanent an dich, und wenn es das manchmal für einen kurzen Augenblick nicht tut, wenn das Leben kurz keine mickrige kleine Scheiße ist, bekomme ich sofort ein schlechtes Gewissen, ich will nicht, dass mich alles an dich erinnert, und ich will dich auf keinen Fall vergessen“ (Seite 31)
Mir hat bereits Der Pfau von Bogdan sehr gut gefallen, aber Laufen hat mich mitten ins Herz getroffen. All die Gedanken und Gefühle der Ich-Erzählerin decken sich mit meinen eigenen Gedanken und Gefühlen, treffen durchweg ins Schwarze und bilden den Trauerprozess (vor allem nach einem Suizid) perfekt ab. Beim Lesen habe ich viele Sätze markiert, die so pointiert sind, dass ich sie immer wieder gelesen habe, und ich habe mich beim Lesen verstanden gefühlt und die Protagonistin voll und ganz verstanden.
Bogdan schreibt in ihrem Roman viele Endlossätze, die atem- und rastlos wirken. Beim Lesen kommt es einem dann beinahe so vor, als würde man mit der Protagonistin laufen, im Takt ein- und ausatmen, mit ihr aus der Puste kommen, all ihre Gedanken mit ihr denken, all die beschriebenen Gefühle mit ihr fühlen. Obwohl das Buch ein schwieriges Thema behandelt und sehr nachdenklich stimmt, findet man auch hier Beispiele für den Sprachwitz der Autorin, der mir bei Der Pfau so gut gefallen hat.
Ich bin begeistert von dem Roman, aber auch vom breiten Spektrum der von Bogdan behandelten Themen, so dass ich nicht nur Laufen und Der Pfau empfehlen kann, sondern auch selbst mehr von der Autorin lesen möchte.
„jetzt muss ich nur noch akzeptieren, dass es deine Entscheidung war, nicht mehr zu leben, deine Entscheidung und nicht meine Schuld, ich gebe mir Mühe, und mein Kopf versteht auch, was sie meint, wenn sie sagt, dass Schuldgefühle gar keine Gefühle sind, sondern falsche Gedanken, aber das ändert nichts daran, dass ich sie habe, dass ich glaube, es ist meine Schuld, zwar nicht nur, du hast es selbst entschieden und es selbst getan, aber ich hätte es merken müssen, ich hätte es verhindern müssen“ (Seite 95)
„Verzeihen. Ihm, dass er das getan hat, dass er mich damit alleingelassen hat, dass er mir das zumutet, und mir selbst, dass ich ihn offenbar davor schon alleingelassen hatte, dass ich nicht rechtzeitig gemerkt habe, dass er mehr Hilfe gebraucht hätte. Verzeihen. Vielleicht kann ich ihm verzeihen. Mir selbst – weiß ich nicht.“ (Seite 199)
Dieser Post ist Teil des Vergänglichkeit-Monatsthemas im November 2020.