„Wann ist die beste Zeit, um einen Baum zu pflanzen? Vor zwanzig Jahren.“ (Seite 46, chinesisches Sprichwort)
Jørgen Hoel, der als Einwanderer von Norwegen nach Amerika kam, bestellt zusammen mit seiner Frau Vi einen Flecken Land in Iowa. Dort pflanzt er Kastanienbäume an, doch ein Baum nach dem anderen stirbt, so wie Jørgen und seine Frau auch einige ihrer Kinder zu Grabe tragen. Doch ein Baum überlebt, wächst und gedeiht, und Jørgens ältester Sohn John beginnt damit, jeden Monat am 21. ein Foto dieses Baumes aufzunehmen. Ein Ritual, das von Generation zu Generation weitergegeben wird – bis zu Nick, dem Urururenkel Jørgens, der 120 Jahre später noch immer fasziniert vom majestätischen Kastanienbaum ist. Die Farm der Hoels gibt es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr, das Land ist an Firmen verpachtet, doch das Haus und der Baum stehen noch immer.
Neben dieser Geschichte um die Hoels und ihren Kastanienbaum führt Richard Powers im ersten Kapitel („Wurzeln“) sieben weitere Erzählstränge ein, z.B. die Geschichte des chinesischen Einwanderers Sih Hsuin, der einen Maulbeerbaum pflanzt und nach seinem Tod drei Töchter, drei Jade-Ringe und eine alte, wertvolle Bildrolle hinterlässt, und die Geschichte der Wissenschaftlerin Patricia Westerford, die entdeckt, dass Bäume miteinander kommunizieren. Der gemeinsame Nenner aller Handlungsstränge ist ein Baum, der für die jeweilige Person eine besondere Bedeutung hat.
Jede einzelne der acht „Wurzeln“-Geschichten wird lebendig, detailreich und bewegend erzählt, hat mich gefangen genommen und mitgerissen, und mit dem Kapitel „Stamm“ verfolgt Powers diese Figuren auf ihrem weiteren Weg und beginnt damit, diese ursprünglich voneinander getrennten Protagonisten miteinander zu verweben: Ihre Wege kreuzen sich, und sie interagieren miteinander.
Im Zentrum dieses wundervollen Romans stehen nicht nur die Figuren, die eine besondere Beziehung zu Bäumen haben, sondern vor allem die Bäume selbst, die über Jahrzehnte wachsen, die imposant sind, die fest mit dem Boden verankert sind, die von den Protagonisten beim Keimen, Emporstreben, Blühen und Früchtetragen beobachtet werden – und die schließlich vergehen, an Parasiten oder Krankheiten leiden, durch Klimaveränderungen absterben oder abgeholzt werden.
Powers zeigt dem Leser in seinem zwölften Roman, der auf der Shortlist des Man Booker Prize 2018 stand, wie faszinierend Bäume und das Ökosystem Wald sind und wie skrupellos der Homo sapiens seine Interessen durchsetzt, dabei buchstäblich über (Baum-) Leichen geht und am Ende sich selbst auslöscht.
Die Wurzeln des Lebens war meine erste Begegnung mit Powers, so dass ich keine Vergleiche zu früheren Romanen des Autors ziehen kann, aber die poetische Sprache mit den wunderbaren Bildern, die exzellente Recherche, der packende und aufwühlende Inhalt sowie die perfekte Komposition (Wurzeln – Stamm – Krone – Samen) des Romans haben mich schlichtweg begeistert.
Die Wurzeln des Lebens hat eine ungeheure Wucht, hat mich bewegt, fasziniert, erstaunt, entsetzt, verzweifeln lassen und zu Tränen gerührt.
„Wenn Sie einen Baum fällen, dann muss das, was Sie daraus machen, mindestens genauso großartig sein wie das, was Sie zerstören.“ (Seite 559)
Richard Powers: Die Wurzeln des Lebens. Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer, 2018, 618 Seiten; 26 Euro.
Dieser Post ist Teil meines Klima-Monatsthemas im August 2021.
Klingt sehr gut, hab den Roman auf dem Radar. Ich schrecke vor so dicken Wälzern oft zurück, daher habe ich es bislang noch nicht gelesen. Aber vielleicht wird es ja noch was mit uns 🙂
Ich kann mir vorstellen, dass dir der Roman sehr gut gefällt. Er wirkt auch nicht wie ein 600 Seiten-Buch. Nur Mut!
Wow, hört sich das toll an! Danke für die Vorstellung. Das werde ich mir notieren.
Liebe Grüße
Petrissa
Liebe Petrissa,
ich fand es so wunderbar. Es gibt aber durchaus einige unbegeisterte Stimmen. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es ein passendes Buch für dich ist.
Liebe Grüße und schöne Ostern für dich,
Romy