Die Kinder sind Könige von Delphine de Vigan

„Mehr als alles andere liebte sie das Fernsehen. Denn das Gefühl einer Leere, das sie empfand, ohne es beschreiben zu können, vielleicht eine Art Unruhe oder die Angst, ihr Leben entgleite ihr, ein Gefühl, das sich manchmal in ihrem Bauch bildete wie ein enger, aber bodenloser Brunnenschacht, ließ nur nach, wenn sie sich vor den Fernseher setzte.“ (Seite 12)

Schon als Teenagerin liebte Mélanie Claux TV-Formate wie Loft Story, einer mit Big Brother verwandten Show, und schaute auch später, als sie in einem Reisebüro arbeitete, gerne Reality-TV-Sendungen. Als sie zur ersten Staffel von Rendez-vous dans le noir eingeladen wird, aber die Sendung bald wieder verlassen muss, fasst sie einen Entschluss:

„Sie würde […] eines Tages berühmt werden.“ (Seite 34)

Später im Leben trifft Mélanie auf Bruno Diore, die beiden heiraten und bekommen zwei Kinder: Sam und Kim.

Mélanie beginnt, ihre Kinder zu filmen und diese Videos ins Internet zu stellen, und schließlich werden sie und ihre Familie sehr berühmt wegen eines YouTube-Kanals mit fünf Millionen Followern und einem sehr erfolgreichen Instagram-Profil.

Mélanie hält jeden Moment des Lebens ihrer Kinder und ihres Alltags in Videos fest und teilt diese mit ihrer Fangemeinde. Bis Kim eines Tages beim Spielen verschwindet. Wurde das sechsjährige Mädchen entführt?

Ich mag die Bücher von Delphine de Vigan sehr und habe fast alles gelesen, was bisher ins Deutsche übersetzt wurde. Bei ‚Die Kinder sind Könige‘ habe ich anfangs etwas länger als bei de Vigan üblich gebraucht, um in die Geschichte hineinzufinden, vielleicht weil mir diese Welt, von der de Vigan erzählt, recht fremd ist.

Sehr bald bin ich jedoch ganz eingetaucht in die Geschichte, und dann gab es kein Halten mehr, ich habe atemlos immer weiter gelesen, war gefesselt und bewegt, wurde wütend und war fassungslos. De Vigan erzählt so glaubwürdig und lebendig von Mélanie und ihrem großen Wunsch, eine Leere zu füllen, gesehen zu werden, besonders zu sein, dass ich beim Lesen das Gefühl hatte, persönlich involviert zu sein – so, wie ich mich immer fühle, wenn ich de Vigans Romane lese.

De Vigan hat sich mit dem Roman einem Thema zugewandt, mit dem ich mich bisher nicht beschäftigt hatte, das aber hochinteressant, aktuell, relevant und brisant ist. Die Kinder sind Könige hat mich schockiert und bisweilen auch angeekelt – nicht nur aufgrund der Frage, warum Eltern ihren Kindern so etwas antun, sie für Ruhm und Geld instrumentalisieren, sondern auch mit dem Gedanken, warum sich fremde Menschen so sehr für das Leben anderer Menschen interessieren, dass sie täglich den (in meinen Augen oft langweiligen) Alltagsgeschichten von Personen folgen, die sie nicht einmal persönlich kennen, mit denen sie nichts gemein und im echten Leben nichts zu tun haben.

Delphine de Vigan: Die Kinder sind Könige. Aus dem Französischen von Doris Heinemann. DuMont Buchverlag, 2022, 320 Seiten; 23 Euro.

Dazu hab ich auch was zu sagen!