„Es ist nicht einfach, eine Gabelung im Lebensweg zu erkennen, und noch schwieriger, sich bewusst für eine Abzweigung zu entscheiden. Doch manchmal kann man im Rückspiegel einen flüchtigen Blick darauf erhaschen. Im Ergebnis ändert sich nichts, aber wenn man eine gewisse Strecke zurückgelegt hat und die Straßenkarte ausgebreitet vor einem liegt, ist es möglich, auf die Stelle zu deuten und zu sagen: Ja, hier sind wir abgebogen.“ (Seite 141f)
Raynor Winn und ihr Mann Moth haben sich nach ihrer über 1000 km langen Wanderung, über die sie in Der Salzpfad erzählt, in Polruan niedergelassen. Sie sehnt sich nach dem Unterwegssein, nach dem besonderen Geruch ihres Zelts und dem vertrauten Gefühl im Zelt, und sie denkt zurück an die Wanderung auf dem South West Coast Path, die sie – nachdem sie und Moth alles verloren haben und er eine infauste Diagnose bekommen hat – gemeinsam unternommen haben.
In Wilde Stille berichtet die Autorin vom Schlaganfall ihrer Mutter und von deren Krankheitsverlauf, von der Begegnung mit Moth und ihrer gemeinsamen Zeit, von Moths Krankheit, von der Veröffentlichung von Der Salzpfad, vom Neubeginn mit der Pacht eines Hofes sowie einer Wanderung in Island.
Ich kenne Der Salzpfad nicht, aber Wilde Stille hat mich sehr neugierig auf den Erstling von Winn gemacht.
Wilde Stille ist stimmungsvoll, bewegend und bisweilen tragisch, aber nie rührselig. Die Autorin erzählt detailreich, was mir über weite Strecken hinweg sehr gut gefallen hat, was mir manchmal aber etwas zu ausführlich war. Alles in allem fand ich das Buch gelungen, denn es ist nicht nur eine interessante Geschichte, sondern auch tiefsinnig und nachdenklich machend.
Raynor Winn: Wilde Stille. Übersetzung von Gerlinde Schermer-Rauwolf, Christa Prummer-Lehmair und Heide Horn. DuMont Reiseverlag, 2021, 320 Seiten; 16,95 Euro.