„Manchmal braucht es eine große Erschütterung, um das Selbstverständliche zu verinnerlichen.“ (CD 6, Track 10)
Nur ein Jahr lang waren die Untergrundkämpfer Rachel und Meno verheiratet, und 70 Jahre später taucht Menos Tochter Atara plötzlich bei Rachel auf, weil sie nach dem Tod ihres Vaters die Frau kennenlernen will, die ihr Vater Meno anscheinend sein ganzes Leben lang geliebt hat, während Atara sich sicher war, dass dieser gefühlskalte Mann gar nicht lieben könnte.
Zeruya Shalev erzählt in Schicksal mehrere Geschichten und auf mehreren Ebenen: die Geschichte von Rachel und Meno, von Atara und ihrem Mann Alex, von Elternschaft, von Paarbeziehungen, von Religiosität, von Terrorismus, von Nationalismus.
Ich habe schon sehr viel von Shalev gelesen und zähle sie zu meinen Lieblingsautorinnen. Bei jedem Buch bin ich begeistert und beeindruckt von Shalevs Beobachtungsgabe und ihrem ausgeprägten Sinn für zwischenmenschliche Beziehungen. Und auch in Schicksal gelingt ihr das auf perfekte Weise.
Shalev beobachtet auch hier sehr genau, was bei der Interaktion zwischen zwei und mehr Menschen passiert, und sie schafft es, ihre Beobachtungen in die passenden Worte zu bringen. So bietet sie tiefe Einblicke in das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen, und jedes ihrer Bücher ist ein Psychogramm, befasst sich mit einer ganz bestimmten Facette menschlichen Erlebens. In Schicksal dreht sich die Geschichte vor allem um Verlust und Trauer, und auch hier hat es Shalev geschafft, dass ich selbst mit den Figuren fühle, mit ihnen leide, mich in sie perfekt hineinversetzen kann, selbst starke Gefühle beim Hören entwickelt habe.
Shalev steigt direkt und unmittelbar in ihre Geschichte ein, so wie ich das auch von ihren anderen Büchern kenne. Sie hält sich nicht damit auf, ihre Figuren ausführlich vorzustellen, sondern der Leser/Hörer ist sofort mitten im Geschehen und wird augenblicklich in die Geschichte gezogen.
Shalev bietet außerdem spannende Einblicke in die zionistische Untergrundbewegung Lechi, die vor der Gründung des Staates Israel gegen die britische Besatzungsmacht und für einen israelischen Staat kämpfte, so dass man durch die Lektüre zudem mehr über die Geschichte und Politik des Landes lernen kann.
Das Hörbuch ist gekürzt, dennoch lässt sich der Geschichte stets problemlos folgen, und ich hatte nie das Gefühl, dass mir hier weitere Informationen fehlen. Schicksal wird kongenial von Maria Schrader und Eva Meckbach gelesen, und ich habe den beiden Sprecherinnen stundenlang lauschen können, war gebannt und fasziniert von der Geschichte und von ihrer meisterhaften Lesung.
Zeruya Shalev: Schicksal. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Gekürzte Lesung mit Maria Schrader und Eva Meckbach. OSTERWOLDaudio, 2021; 24 Euro.