Scham von Inès Bayard

„Ein einziger tragischer Vorfall in ihrem Leben hatte zu dieser Tat geführt.“ (Seite 9)

Gleich beim Einstieg ins Buch erfahren wir, dass Marie sich und ihren Sohn Thomas vergiftet und dass ihr Mann Laurent überlebt hat.

Danach erzählt Inès Bayard von den Geschehnissen zuvor: von der glücklichen Beziehung zwischen Marie und Laurent, von ihrem Kinderwunsch, von ihrer Karriere in einer Bank und seiner als Anwalt. Die beiden sind ein schönes Paar, leben in Paris, sind erfolgreich und beliebt.

Dann wird Marie vom Direktor der Bank brutal vergewaltigt, doch sie schweigt darüber, erzählt keinem davon, leidet still, ekelt sich vor Laurent und vor Sex, versucht mit aller Kraft, das Geschehene hinter sich zu lassen. Doch sie wird immer wieder von dem Erlebnis eingeholt.

Als Marie entdeckt, dass sie schwanger ist, ist sie überzeugt, dass sie das Kind des Vergewaltigers in sich trägt. Sie versucht vergeblich, das Kind loszuwerden, und als Thomas geboren wird, findet sie ihn abstoßend, vernachlässigt ihn, wird durch seine Präsenz immer wieder an die Vergewaltigung erinnert.

Obwohl man vom ersten Kapitel an weiß, wie die Geschichte endet, macht der Beginn des Romans sehr neugierig, man will wissen, wie es zur Tragödie kam, was die Motivation von Marie war, wie sich ihr Zustand zugespitzt hat.

Bayard macht den Ekel, die Angst, die Wut, die Verzweiflung und die titelgebende Scham spürbar. Die Gefühle Maries selbst zu spüren, ist alles andere als angenehm, oft fast nicht aushaltbar. Da sie sehr detailliert auf die Vergewaltigung eingeht, könnten Lesende mit eigenen sexuellen Gewalterfahrungen hier extrem getriggert werden.

Ich empfand den Roman sprachlich bisweilen als etwas unbeholfen, ziemlich geärgert hat mich aber die stigmatisierende Phrase „psychotischer Gesichtsausdruck“ auf Seite 156.

Trotz einiger Kritikpunkte empfand ich die Lektüre als gelungen, da sie gut darstellt, wie sich das Leben von einem Moment auf den nächsten massiv verändern kann.

Inès Bayard: Scham. Aus dem Französischen von Theresa Benkert. btb Verlag, 2024, 224 Seiten; 14 Euro.

Dazu hab ich auch was zu sagen!