„Sich Dinge vorzustellen, hindert sie nicht daran einzutreten. Genauso wenig, wie sie sich nicht vorzustellen.“ (Seite 12)
Manchmal geschehen im Leben Dinge, die ganze Lebenswege verändern. Manchmal weiß man es direkt im Augenblick des Geschehens, dass nun nichts mehr so ist, wie es vorher war. Und manchmal kristallisiert sich erst mit der Zeit heraus, dass die Weichen nun anders gestellt sind, als man das ursprünglich geplant hatte.
An einem solchen Scheideweg befindet sich Adam Goldschmidt, der Vater der 15-jährigen Miriam, als er eines Tages einen Anruf der Rektorin von Miriams Schule erhält: Miriam hatte einen Atem- und Herzstillstand, wurde bewusstlos auf dem Sportplatz gefunden, reanimiert und in eine Klinik gebracht.
Miriam bleibt zur Beobachtung auf der Intensivstation, um die Ursache des Atem- und Herzstillstands festzustellen. Doch niemand weiß, warum sie aufgehört hat zu atmen und wann es wieder passieren könnte.
Der Vorfall zerstört die Familienroutine und hat Auswirkungen auf alle Familienmitglieder: Die Eltern kämpfen gegen ihre Angst, dass sich die Geschichte wiederholt und ihre Tochter sterben könnte, die kleine Schwester Rose gegen den Neid auf Miriam, die nicht zur Schule gehen muss und den ganzen Tag im Bett bleiben kann, Miriam selbst gegen die lähmende Langeweile und gegen den Verlust eines unbeschwerten Lebens.
Sarah Moss hat in Gezeitenwechsel ein hochemotionales Thema behandelt, wobei die Figuren und Szenarien überzeugend und lebensnah gezeichnet wurden. Durch die detaillierten Beschreibungen, die bisweilen fast ein wenig zu ausführlich wirken, aber in dieser Ausführlichkeit notwendig sind, um die Gefühle und Gedanken der Personen so authentisch erscheinen zu lassen, zeigt sich ein komplexes Bild des Geschehens und der Auswirkungen des traumatischen und beängstigenden Ereignisses.
Durch die Schachtelsätze verlangt Gezeitenwechsel die volle Aufmerksamkeit des Lesers, ist (sowohl sprachlich als auch inhaltlich) keine Lektüre für zwischendurch. Sich auf den Roman und die Ausführlichkeit einzulassen, lohnt sich jedoch, weil man so ganz in die Welt der Familie eintauchen kann.
Moss hat in ihrem Roman extrem gut eingefangen, was man denkt und fühlt, wenn ein tragisches Ereignis den Alltag und die tägliche Routine unterbricht, wenn von einem Moment zum nächsten nichts mehr so ist, wie man es kannte, wenn das Leben plötzlich einen anderen Verlauf nimmt, als man dachte und plante.
Zwar empfand ich einige Szenen, die in die eigentliche Handlung eingeschoben wurden, als etwas störend und nicht unbedingt notwendig, aber dennoch möchte ich den Roman, der mich so berühren konnte und der so authentisch ist, mit Nachdruck empfehlen.
„Und dann denke ich an all die Wenns, mit denen wir alle leben: all die Male, die wir im Stau hinter einem Unfall auf der Autobahn standen, und wenn wir zehn Minuten früher aufgebrochen wären, wenn wir nicht noch mal umgekehrt wären, um zu prüfen, ob die Heizung aus war, oder andersrum, wenn die Menschen zehn Minuten vor uns, die jetzt nicht mitbekommen, dass die Feuerwehr ihre Autos aufschneidet, während Blut auf den Asphalt tropft, wenn diese Menschen umgekehrt wären, um zu prüfen, ob die Heizung aus war, wenn sie beschlossen hätten, doch die Wanderstiefel mitzunehmen – wir können so nicht leben.“ (Seite 341)
Sarah Moss: Gezeitenwechsel. Aus dem Englischen von Nicole Seifert. mareverlag, 2019, 368 Seiten; 24 Euro.
Hallo,
da musste ich direkt daran denken, dass vor ein paar Jahren eine Schülerin an der Schule, in der mein Mann unterrichtet, tatsächlich etwa in diesem Alter an einem Herzinfarkt starb. Bei ihr wurde das durch Magersucht ausgelöst…
Das Buch klingt sehr interessant und gut geschrieben, das werde ich mal auf die Wunschliste setzen.
LG,
Mikka