„In jeder Region gibt es einige wenige, in der Helferszene gut bekannte Menschen, die als „besonders schwierig“ bezeichnet werden, als „Systemsprenger“, weil sie die Regeln und Grenzen einer Einrichtung regelmäßig überschreiten, oder als Klienten mit „herausforderndem Verhalten“. Was macht diese Menschen so besonders?
Sie sind nicht immer besonders schwer erkrankt. Die meisten würden sich selbst auch keineswegs als „schwierig“ bezeichnen. Wir Fachleute sind es, die sie so erleben – salopp gesagt, weil sie uns besonders viel Arbeit, Ärger oder manchmal auch Angst bereiten. Mit ihrem Verhalten fordern sie uns heraus, Hilfe zu leisten, während sie es gleichzeitig ablehnen, Psychopharmaka einzunehmen, abstinent zu leben oder die Hausordnung einzuhalten. In der Beziehung zu uns erleben wir sie als unkooperativ. Betrachtet man sie dagegen unabhängig von unseren Anforderungen und Normen, sind es Menschen mit einem starken Willen zur Selbständigkeit. Sie haben eigene Vorstellungen vom Leben und verfolgen diese hartnäckig. Sie sind Experten für Eigensinn.“ (Seite 8)
Im Buch werden 20 Menschen mit herausforderndem Verhalten vorgestellt, die an Schizophrenie, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Depression, Substanzmissbrauch/-abhängigkeit, Zwangsstörung, sozialer Phobie bzw. schizoaffektiver Psychose erkrankt sind.
Der Leser erfährt dabei mehr über die Lebens- und Krankheitsgeschichte der einzelnen Personen, lernt aber auch die Sichtweise von Angehörigen und Professionellen kennen, so dass der Mensch mit dem sogenannten herausfordernden Verhalten von mehreren Seiten beleuchtet, seine Aktionen, Reaktionen etc. aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden.
Ich finde dies nicht nur einen besonders spannenden, sondern auch einen wichtigen Ansatz, denn beim Lesen fällt immer wieder auf, wie unterschiedlich die gleiche Situation von Betroffenen, Angehörigen und Professionellen interpretiert und erlebt wird. Dies verdeutlicht, dass es nicht nur die eine Wahrheit gibt, wie Situationen erlebt werden und welche Gefühle und Gedanken damit verbunden sind, sondern das Buch trägt auf diese Weise entscheidend zum Verständnis von psychischen Störungen, aber auch des Menschseins an sich bei.
Die Menschen im Buch hatten und haben teilweise mit schweren Schicksalsschlägen zu kämpfen, aber weisen auch eine große Stärke und eine ausgeprägte Resilienz auf. Ich fand es zudem großartig zu lesen, wie für Menschen, die als schwierig oder herausfordernd gelten, eine Lösung gefunden werden kann, die alle Beteiligten zufrieden macht und bei den Betroffenen Recovery fördert.
Das Buch zeigt aber auch, dass es dafür keine Standardlösung gibt, sondern dass man genau zuhören, beobachten und offen für neue, bisweilen unkonventionelle Wege sein muss, um für den Einzelnen die passende Idee zu entwickeln, die (auch mit einer einschränkenden psychischen Erkrankung) ein erfülltes Leben ermöglicht.
„Die Herausforderung bei Menschen mit herausforderndem Verhalten besteht vor allem darin, mit ihnen eine funktionierende professionelle Beziehung zu entwickeln von einer emotional belastenden zu einer von gegenseitiger Wertschätzung geprägten Zusammenarbeit. Das kann man lernen.“ (Seite 9)
Jo Becker und Daniela Schlutz: Experten für Eigensinn. Berichte gelungener Zusammenarbeit bei herausforderndem Verhalten, erzählt von Klienten, Angehörigen und Fachkräften. Psychiatrie Verlag, 2017, 240 Seiten; 20 Euro.
Ein Gedanke zu „Experten für Eigensinn von Jo Becker und Daniela Schlutz“