„Doch im Grunde ist er derselbe Mensch, ein Mensch, der in anderen Abscheu hervorruft, ein Mensch, der existiert, um gehasst zu werden.“
Jude, Malcolm, J.B. und Willem haben sich am College kennengelernt und sind auch Jahre später noch eng befreundet. Zwar beschreibt Hanya Yanagihara in Ein wenig Leben die berufliche und persönliche Entwicklung der vier Freunde und ihre Beziehung zueinander, ihre Konflikte und ihre Freundschaft, doch im Mittelpunkt des Romans steht Jude, der als Anwalt Karriere gemacht hat, der beliebt und charismatisch ist, den jedoch keiner der Freunde wirklich zu kennen scheint, denn Jude erzählt nichts von seiner Kindheit und Jugend, die Freunde wissen nicht, woher er kommt und woher die entsetzlichen Schmerzen in seinen Beinen stammen.
Wie die drei Freunde und andere Vertraute Judes (sein Arzt Andy sowie Harold und seine Frau Julia, die den erwachsenen Jude adoptierten) erfährt auch der Leser nach und nach von Judes Vergangenheit, von seinem Leid und seinen Schmerzen. Die Geschichte entblättert sich dabei mit Rückblenden und Spannung erzeugenden Szenewechseln Schicht für Schicht, so dass die fast 1000 Seiten bzw. 2000 Hörminuten fast durchweg fesselnd sind.
Ich habe Ein wenig Leben als Buch gelesen und als (gekürztes) Hörbuch gehört. Ich lese normalerweise keine Klappentexte, weil oft zu viel verraten wird und das mein Lesevergnügen häufig schmälert. Bei Ein wenig Leben habe ich allerdings noch stärker darauf geachtet, dass ich nicht zu viel über das Buch weiß, bevor ich selbst damit begonnen habe. Das war die richtige Entscheidung, und ich empfehle dies jedem potenziellen Leser, weswegen ich hier auf eine detaillierte Inhaltsangabe und bestimmte Schlagworte verzichtet habe.
Vor der Lektüre habe ich mir vorgenommen, mich nicht zu sehr vom Buch berühren zu lassen, denn ich empfand das Cover als zu plakativ und irgendwie manipulativ. Mein Plan ist nicht aufgegangen, denn das Buch, das sich auf den ersten hundert Seiten durchaus etwas in die Länge zieht und vor allem anfangs deutlich hätte gekürzt werden können, hat schließlich einen so starken Sog auf mich ausgeübt, dass ich mich der Geschichte um Jude kaum entziehen konnte. Man kann in Rezensionen häufig von diesem „Sog“ lesen, oder ein Buch wird mit Drogen verglichen, von denen man nicht lassen kann. Dies klingt oft abgedroschen und übertrieben, aber hier war es für mich tatsächlich so: Ich konnte am Abend nicht aufhören mit dem Buch, und ich habe mir am Morgen überlegt, ob ich es wage, weiterzulesen/-hören, weil dann die Gefahr bestehen würde, dass ich an diesem Tag nichts anderes mehr tun werde. Dabei ist es beim Lesen/Hören oft so, dass die Schilderungen beinahe unerträglich sind, dass man eigentlich nicht erfahren WILL, was Jude nach und nach von seiner Vergangenheit erzählt, dass man aber lesen und hören MUSS, was er erlebt hat. Diese ambivalenten Gefühle von Abscheu und Neugier zogen sich fast durch die gesamte Lektüre und haben mich stellenweise emotional ausgelaugt. Und dennoch gab es für mich (genau wie für Jude, der all die Dinge am eigenen Leib erlebt hat) kein Entrinnen: Das Buch hat mich regelrecht verfolgt, ich habe in den Lese- und Hörpausen immer wieder darüber nachdenken müssen, ich musste (wie es der Verlag ankündigt) darüber sprechen. Dabei ist Judes Problematik hervorragend und sehr authentisch herausgearbeitet und beschrieben, so dass man tiefe Einblicke in seine Persönlichkeit und die Gründe für seine Handlungen, Gefühle und Gedanken bekommt.
Aus sprachlicher Sicht ließ sich das Buch sehr flüssig lesen, obwohl ich anfangs manche Phrasen und Vergleiche zu sperrig und unsinnig fand, z.B. „sie schmolzen so geräuschlos in der eigenen Geschichte wie ein Brikett aus Eis, das in eine warme Badewanne gleitet“. Das Hörbuch wird von Torben Kessler sehr ansprechend gelesen, das Tempo und die Sprachmelodie sind angenehm und sorgen dafür, dass man der Geschichte gerne lauscht, obwohl ich mich anfangs erst einhören musste und die Stimme gewöhnungsbedürftig fand.
Ein wenig Leben ist ein Buch über unvorstellbares Leid, über Schmerz und Verzweiflung, über Hoffnungslosigkeit und Trostlosigkeit – und zugleich ein Buch über Glück und Erfolg, Liebe und Freundschaft, Hoffnung und das pure Leben. Ein Buch wie Ein wenig Leben bekommt man selten in die Hände, deshalb empfehle ich – trotz der Länge des Romans und des oft schwierigen Inhalts – die Lektüre, die mich so sehr beeindruckt und fasziniert, aber auch abgestoßen hat.
Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser Berlin, 2017, 960 Seiten; 28 Euro.
Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Gekürzte Lesung von Torben Kessler. Hörbuch Hamburg, 2017; 24,99 Euro.