Ein Lied für die Vermissten von Pierre Jarawan

„Wie oft holen wir diese Momente hervor, die wir im Rückblick als Wendepunkte erkennen? Wie oft bauen wir ein Fundament aus diesen Augenblicken und errichten darauf ein Haus aus Erinnerungen, in dessen Zimmern wir umhergehen und sagen: Hier hat sich das Glück ins Elend oder das Elend ins Glück gewendet?“ (Seite 46)

Im Jahre 1994 kehrt der jugendliche Amin gemeinsam mit seiner Großmutter zurück in den Libanon, wo er bis kurz nach dem Tod seiner Eltern gelebt hatte.

Hier verbringt er die meiste Zeit mit dem gleichaltrigen Jafar, der ihm (genau wie die Großmutter) Halt in dieser für ihn ungewohnten Welt gibt, die so anders als das Leben in Deutschland ist.

Dann geschehen in Amins Umfeld Dinge, die er nicht versteht: Menschen verschwinden, seine Großmutter muss ihr Café schließen, Jafar verleugnet ihn, und seine Großmutter distanziert sich schließlich von Amin.

Ich habe vor ein paar Jahren mit großer Begeisterung Am Ende bleiben die Zedern von Pierre Jarawan gelesen und seitdem sehnsüchtig auf einen neuen Roman des Autors gewartet.

Ein Lied für die Vermissten ist in blumiger Sprache geschrieben und opulent, was ich eigentlich nicht so gerne mag, aber den Einstieg ins Buch fand ich trotzdem einfach wunderbar.

Der überbordende Schreibstil war für mich stimmig, hat mich nach Beirut versetzt und mich bisweilen an Nagib Mahfuz‘ stimmungsvolle, fast märchenhafte Beschreibungen der Kairoer Altstadt erinnert.

Ich war mir anfangs sicher, dass ich hier einen Lieblingsroman 2020 in den Händen halte – aber im Verlauf habe ich bemerkt, dass ich mit meinen Gedanken immer wieder abgeschweift bin, dass mir die Schilderungen Jarawans zeitweise zu ausufernd waren, dass ich fast nicht mehr an der Auflösung der Geschichte interessiert war, weil ich den Stil dann doch zu blumig, zu weitschweifig und zu opulent fand. Allerdings gab es auch immer wieder sehr gute, spannende, atmosphärische Passagen, so dass ich den Roman schließlich tatsächlich beendet habe, auch wenn ich während der Lektüre oft an einen Abbruch dachte.

Jarawan erzählt seine Geschichte auf verschiedenen Zeitebenen und bringt dem Leser so den Libanon in unterschiedlichen geschichtlichen Epochen und vor dem Hintergrund verschiedener historischer Begebenheiten nahe. Er macht so die Zäsur deutlich, die das Land durch den Bürgerkrieg in ein Vorher und ein Nachher teilte, beschreibt ein Leben, das massiv durch den Krieg und die Nachkriegszeit geprägt ist.

Ein Lied für die Vermissten ist ein Roman über Krieg und Frieden, Heimat und Fremde, Freundschaft und Enttäuschung, vom Erwachsenwerden und von Geheimnissen. Mich hat er stilistisch nicht ganz begeistern können, obwohl der Roman thematisch spannend und wichtig ist.

Pierre Jarawan: Ein Lied für die Vermissten. Berlin Verlag, 2020, 461 Seiten; 22 Euro.

2 Gedanken zu „Ein Lied für die Vermissten von Pierre Jarawan“

  1. Hallo,

    wie schade, dass aus einem vermeintlichen Lieblingsbuch dann doch eher eine Enttäuschung wurde… Das ist mir auch schon passiert, da ist die Enttäuschung dann umso stärker.

    Aber eine gut geschriebene Rezension!

    LG,
    Mikka

    1. Liebe Mikka,

      danke fürs Lob. Ich fand’s auch schade, dass mir das Buch nicht so gut wie gehofft gefallen hat, aber so ist das manchmal. Die nächsten Bücher warten schon :).

      Liebe Grüße an dich!

Dazu hab ich auch was zu sagen!