„[…] es gibt keine Absurdität, die man nicht ganz natürlich leben würde, und auf meinem Weg, das weiß ich schon jetzt, lauert wie eine unvermeidliche Falle das Glück auf mich. Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach Übeln, den ‚Greueln‘: obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.
Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse.“ (Seite 287)
Ich weiß noch genau, unter welchen Umständen ich Roman eines Schicksallosen gekauft habe: Es war 1998 am Frankfurter Flughafen, kurz vor einem Flug nach Rom. Ich kannte den Autor Imre Kertész noch nicht, und er wurde in Deutschland auch erst vier Jahre später etwas berühmter, nachdem ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde. Ich habe das Buch einzig und allein wegen des Covers gekauft – der knappe Klappentext hatte kaum etwas vom Inhalt des Romans verraten, aber der auf einem Ei liegende Vogel hat mich sofort neugierig gemacht.
Schon nach der ersten Lektüre war ich restlos begeistert von Kertész und seinem Roman, und auch 22 Jahre später ist Roman eines Schicksallosen eines meiner Lieblingsbücher und meiner Meinung nach der beste Roman, der je über die Konzentrationslager geschrieben wurde.
Kertész erzählt (angelehnt an seine eigenen Erfahrungen) vom 15-jährigen György, der mit seiner Familie in Budapest lebt, eines Tages nach Auschwitz und später nach Buchenwald deportiert wird, der wie durch ein Wunder überlebt und der auf eine sehr untypische, naive, kindliche Weise von den Lagern erzählt.
Trotz des naiven Erzählstils, der sich im Laufe des Romans wandelt und am Ende philosophische Züge annimmt, ist der Roman authentisch und respektvoll, wird getragen von Kertész‘ eigenen Erlebnissen, seinen eigenen Beobachtungen, seinen eigenen Gefühlen.
Kertész gibt der Shoa durch die Naivität seines Helden ein besonderes Gesicht, verharmlost dadurch nichts, sondern macht das Grauen von Auschwitz und Buchenwald durch den kindlichen György noch grauenvoller. Er lässt den Leser/Hörer am Alltagsleben im Lager teilhaben und ermöglicht es, die Welt nicht nur in Schwarz und Weiß, sondern in Grautönen zu sehen. Vor allem die Passagen nach der Befreiung Buchenwalds empfinde ich als meisterhaft, diese sind auch nach x-maligem Lesen unglaublich berührend und sorgen bei mir seit 22 Jahren für hohe Emotionalität. Kertész setzt sich hier sehr differenziert mit Györgys bzw. seinen eigenen Erfahrungen auseinander, und obwohl sein gesamter Roman auf unkonventionelle Weise von der Shoa erzählt, wird hier eine Art Klimax erreicht.
Das gekürzte Hörbuch wird von Ulrich Matthes und von Kertész selbst gelesen. Beide Sprecher sind grandios: Matthes liest mit kindlichem Erstaunen, oft mit einem Lachen in der Stimme und intoniert den Text auf perfekte Weise; Kertész‘ Interpretation seines eigenen Textes steht außer Frage, verursacht beim Hören Gänsehaut und ist ein echtes Zeitdokument.
Ich empfehle generell das Buch, da die Schilderungen hier ausführlicher sind, im Hörbuch einige wichtige Stellen fehlen und der Roman insgesamt sehr stark gekürzt wurde. Das Hörbuch lege ich jedoch allen ans Herz, die vorerst einen Einblick in den Roman erhalten möchten und/oder den Roman bereits kennen und erneut entdecken wollen, denn vor allem die Lesung von Kertész selbst ist einfach großartig.
Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt Taschenbuch, 1999, 288 Seiten; 10 Euro.
Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Gekürzte Lesung mit Imre Kertész und Ulrich Matthes. der Hörverlag, 2002; 24,95 Euro.
Dieser Post ist Teil des Ungarn-Monatsthemas im Juni und Juli 2020.