„Menschen, mit denen man nicht spricht, lernt man auch nicht kennen, nimmt sie nicht als Menschen wahr. Darum konnten Psychiater in kommunalen und kirchlichen Anstalten uns zumuten, was sie selbst nicht ertragen hätten: die trostlose, menschenunwürdige, bloße Verwahrung ohne eine Beschäftigung; die von Psychiatern gegen uns beantragten und rigoros durchgeführten Zwangssterilisationen und ihre lebenslangen Folgen ohne eine menschliche Rehabilitierung; das Töten durch Vergasen, Abspritzen oder Zu-Tode-Hungern von über 200 000 als ‚lebensunwert‘ verurteilten Patientinnen und Patienten. […] Die heute wieder erstarkende biologisch-genetisch orientierte Psychiatrie kann nur unsere Angst erregen, denn sie war eine entscheidende Voraussetzung dieser Verbrechen. Wer die Patientenerfahrung seelisch verursachter Psychosen nicht gelten lässt, wird sie nur medikamentös bekämpfen.“ (Seite 85f)
Seit ich zum ersten Mal auf Thomas Bock gestoßen bin, wusste ich, dass ich mehr von ihm und über seine Anschauungen über Menschen mit Psychosen, über Psychopharmaka und über die therapeutische Beziehung zu Personen mit psychischen Problemen lesen und erfahren möchte. Seitdem habe ich mich näher mit seinen Büchern beschäftigt, und auch Stimmenreich vermittelt viel Wissen über den Umgang mit Menschen mit Psychosen und bietet so wertvolle Impulse für den persönlichen und den professionellen Umgang mit ihnen.
In Stimmenreich erzählen Psychoseerfahrene von ihrer Psychose und gewähren so tiefe Einblicke in ihre Gedanken und Gefühle, aber auch (was ich für besonders wertvoll halte), wie sie die psychiatrische Behandlung empfunden haben, wie ihnen dadurch zum Teil etwas Bedeutsames genommen wurde, was ihnen dadurch fehlt, wie sie in und außerhalb ihrer Psychose ihre Umwelt interpretiert haben.
Neben den Aussagen der Psychoseerfahrenen finden sich im Buch (ganz im Sinne der von Bock ins Leben gerufenen trialogischen Psychoseseminare) auch Gedanken, Erlebnisse und Erfahrungen von Angehörigen sowie von Professionellen.
Angesprochen werden Themen wie Gefühlsverflachung, Wahn, mangelnde Krankheitseinsicht, die oft einseitige und alleinige Behandlung mit Psychopharmaka, Kommunikation, Partnerschaft, Schuld, Angst, Gewalt, sexueller Missbrauch, Zwangsbehandlung und EX-IN.
Im Buch finden sich unter anderem Fragen zu bestimmten Themen und nachfolgend Antworten der drei Gruppen (Erfahrene, Angehörige, Professionelle), längere Texte, die sich detaillierter mit verschiedenen Themen auseinandersetzen, Fallgeschichten sowie zum Teil recht hitzige Diskussionen zwischen den drei Gruppen.
Dadurch, dass in Stimmenreich zahlreiche Themen angerissen werden, vermitteln die Autoren (und alle anderen Beteiligten) die verschiedenen Spielarten und die Heterogenität von Psychosen, die jeder Betroffene anders erlebt, anders interpretiert und anders in sein Leben integriert. All dies ist nicht nur sehr bewegend, sondern auch lehrreich, zumal man hier von Facetten und Nuancen liest, die man in keinem der gängigen Psychiatrie-Lehrbücher findet, sondern die einen Blick über den Tellerrand ermöglichen. Stimmenreich bietet dadurch tiefe Einblicke in die Psychopathologie von Psychosen, bildet aber auch das emotionale Erleben in einer Psychose ab, zeigt Beziehungsdynamiken und das erschwerte (aber keineswegs unmögliche) Miteinanderleben.
„Beim ersten Mal geht man noch freiwillig in die Psychiatrie, aber dann passiert da nichts anderes als Medikation. Beim nächsten Mal will man schon nicht mehr, und das wird dann als mangelnde Krankheitseinsicht gesehen. Und es passiert erst recht nichts anderes mehr als die Verordnung von Psychopharmaka.“ (Seite 91)
„Leider gibt es zu wenige Therapeuten, die Psychosen therapieren.“ (Seite 172)
Thomas Bock, Dorothea Buck und Ingeborg Esterer: Stimmenreich. Mitteilungen über den Wahnsinn. BALANCE buch + medien verlag, 2014, 280 Seiten; 15 Euro.