Lincoln im Bardo von George Saunders

„Es ist schwer, so schwer, ihn gehen zu lassen!“ (Seite 64)

Willie Lincoln, der dritte Sohn des Präsidenten Abraham Lincoln, starb am 20. Februar 1862 im Alter von 11 Jahren an Typhus.

In der Nacht nach der Beerdigung auf dem Oak Hill Cemetery in Georgetown kehrt der trauernde Präsident zurück auf den Friedhof, betritt die Gruft und öffnet den Sarg, um den geliebten Sohn ein letztes Mal im Arm zu halten.

Willie befindet sich im Bardo, laut tibetanischer Lehre das Reich zwischen Diesseits und Jenseits, und mit dem Besuch des Vaters auf dem Friedhof erwachen die Geister der Toten, der Geschichte und der Literatur und sprechen miteinander über den Vater, den Sohn, die Krankheit, den Tod, das Nicht-Verstehen des tragischen Verlusts eines wichtigen Menschen, die Liebe.

George Saunders‘ Roman wurde 2017 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet, und das war nicht der einzige Grund, warum ich Lincoln im Bardo gerne lesen wollte. Vielmehr war ich gespannt auf das ungewöhnliche Stilmittel, eine Geschichte anhand von Zitaten zu erzählen, und auch das Thema „Verlust eines wichtigen Menschen“ hat mich aus persönlichen Gründen sehr angesprochen.

Ich wollte das Buch aus diesen Gründen mögen, aber Saunders hat es mir wahrlich nicht leicht gemacht. Schon nach den ersten Seiten wollte ich Lincoln im Bardo abbrechen, denn die Sätze und Satzfetzen der Toten haben mich oft recht ratlos zurückgelassen, ließen sich nicht flüssig lesen und zudem nicht immer verstehen. Auch die teils altertümliche Sprache und die Auslassungen haben dafür gesorgt, dass ich mich schwer getan habe, die Zitate begreifen, nachvollziehen und angemessen interpretieren zu können.

Ich habe allerdings durchgehalten, auch aufgrund der Tatsache, dass nach den ersten, eher schwierigen Seiten Passagen kamen, die mich sehr bewegt haben, z.B. als ein Suizident vom eigenen Bedauern erzählt, von Zweifeln, die ihm mitten im Akt des Suizids kamen, vom Entdecken der Schönheit des Lebens in einem Moment, in dem nichts mehr rückgängig gemacht werden kann.

Die 445 Seiten schrumpfen durch das großzügige Layout mit den Zitaten auf einen Bruchteil zusammen, und so lässt sich Lincoln im Bardo verhältnismäßig schnell lesen, auch wenn manche Passagen sehr zum Nachsinnen anregen und erst einmal verdaut werden müssen.

Eines kann man sicher sagen: So ein Buch hat es noch nie gegeben! Saunders hat einen sehr unkonventionellen Weg eingeschlagen, und die Umsetzung ist konsequent, auch wenn ich über Seiten hinweg keinen Zugang zum Erzählten gefunden habe. Allerdings resoniert das Buch stark mit eigener Trauer und eigenen Erfahrungen mit dem Thema, und dies sind die Passagen, die mich weiterlesen ließen und die mich begeistert haben.

Ich bin nach der Lektüre nach wie vor ratlos, ob ich Lincoln im Bardo empfehlen kann, aber gewiss ist, dass ich froh bin, den Roman gelesen zu haben.

George Saunders: Lincoln im Bardo. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Luchterhand, 2018, 445 Seiten; 25 Euro.

Dieser Post ist Teil des Vergänglichkeit-Monatsthemas im November 2020.

Dazu hab ich auch was zu sagen!