„Wenn man etwas erst mal weiß, kann man es niemals mehr nicht wissen“
Dezember 1986: Der berühmte und erfolgreiche Maler Finn Weiss malt sein allerletztes Porträt. Er wird sehr bald an den Folgen einer HIV-Infektion sterben, befindet sich im Stadium des fortgeschrittenen erworbenen Immunschwächesyndroms (Acquired Immune Deficiency Syndrome, AIDS).
Das Motiv seines letzten Gemäldes ist seine 14-jährige Patentochter und Nichte June Elbus mit ihrer älteren Schwester Greta. Mit June verbindet ihn eine tiefe Zuneigung und eine große Vertrautheit, mit ihr teilt er seine Geheimnisse, und er kennt ihre.
Doch nach seinem Tod muss June erkennen, dass sie viele Dinge über Finn nicht wusste, z.B. dass er neun Jahre lang mit einem Mann zusammengelebt hat, der nun noch immer in der Wohnung Finns wohnt.
Auf diesen Mann, Toby, wird June erstmals bei Finns Beerdigung aufmerksam, doch sie versteht schnell, dass ihre Eltern mit dem Mann nichts zu tun haben möchten, dass sie ihm an Finns Tod die Schuld geben. Doch Toby sucht Junes Nähe, übergibt ihr die geliebte russische Teekanne, die Finn gerne benutzt hat und ihr bereits zu Lebzeiten schenken wollte, was Junes Mutter jedoch abgelehnt hatte. Nach und nach verbringen June und Toby mehr Zeit miteinander, freunden sich an und teilen ihre Erinnerungen an Finn.
Der Einstieg ins Buch hat mir gut gefallen, die Figuren wirkten gut herausgearbeitet und lebensnah, der Schreibstil war flüssig und doch anspruchsvoll. Auch die vielen Wechsel der Zeitebenen fand ich gelungen, denn durch die Rückblenden konnte man viel über die Kindheit Junes und die Zeit mit Finn erfahren. Durch die kurzen Kapitel habe ich immer weiter gelesen und bin anfangs sehr schnell mit dem Roman vorangekommen.
Nach dem vielversprechenden Einstieg empfand ich die Aktionen und Reaktionen der Figuren sowie die Beziehungen zwischen ihnen jedoch als kaum mehr überzeugend und schließlich sogar vollkommen unglaubwürdig. Damit hat der Roman für mich seinen Zauber verloren, und er konnte mich nicht bewegen, sondern ich empfand ihn mehr und mehr als rührselig, teilweise sogar als kitschig.
Als störend empfand ich auch, dass die Autorin alles bis ins kleinste Detail erklärt, so dass man als Leser intellektuell, emotional und psychologisch nicht herausgefordert wird, z.B.:
>“Genau das wünsche ich mir für dich“, sagte er. „Ich will, dass du nur die aller-, allerbesten Menschen kennenlernst.“
In diesem Moment verlor ich die Beherrschung und weinte, weil ich den allerbesten Menschen schon kannte. Finn war diese allerbeste Person.<
Mich hat das Buch im Verlauf fast wütend gemacht: die hölzernen Dialoge, die konservativen Ansichten, die fehlende psychologische Tiefe, die Borniertheit der Figuren, die Vorhersehbarkeit der Geschichte, die Binsenweisheiten.
Von mir gibt es leider keine Leseempfehlung, auch wenn Sag den Wölfen, ich bin zu Hause von anderer Seite hochgelobt wurde.
Carol Rifka Brunt: Sag den Wölfen, ich bin zu Hause. Übersetzung von Frauke Brodd. Eisele, 2018, 448 Seiten; 18,99 Euro (Kindle Edition) bzw. 22 Euro (gebundene Ausgabe).
Dass das Buch vielleicht ein wenig Subtilität vermissen ließ, fand ich jetzt nicht so schlimm (auch nicht so deutlich). Wenn man die englischen ein und zwei Sternekritiken bei Amazon liest war’s wohl noch zu subtil – da wird es u.a. als Verniedlichung von Pädophilie gelesen. Dass aber ausgerechnet das Kernthema Homophobie keinesfalls der Grund sein durfte, warum die Mutter mit Toby ein Problem hatte, ist unverzeihlich. Da wird eine zusätzliche Prämisse eingeführt, die es absolut nicht braucht (Toby war im Gefängnis & ist ein wenig verantwortungslos – Whiskey, Rauchen mit Kids usw), die den Hauptkonflikt verwässert und zudem das Handeln der Mutter wieder relativ vernünftig erscheinen lässt. Keine Ahnung, was sich die Autorin dabei gedacht hat.
Danke für deinen Kommentar. Auf mich wirkte das Handeln der Mutter durch die zusätzliche Prämisse nicht vernünftiger, sondern einfach total unglaubwürdig. Aber du hast recht, wenn man es als Verwässerung des Hauptkonflikts „Homophobie“ liest, dann ergibt es vielleicht mehr Sinn. Für mich war es absolut unnachvollziehbar, welches Verhalten der Tochter noch als ok durchgeht und irgendwie akzeptiert wird und was absolut untragbar ist. Ich fand den Roman sehr engstirnig und konservativ, und mich hat das alles wirklich wütend gemacht…
Liebe Grüße!
Ja, ich denke sie wollte die Eltern nicht homophob dastehen lassen. Und genau dadurch wirkt mE der Roman dann so konservativ, weil plötzlich alle Charaktere wie halb Verrückte rüber kommen.
(Konservative scheinen den Roman aber auch nicht zu mögen…)
Falls der Kommentar doppelt auftaucht, hab da wohl grad ein Problem bei WordPress.
Ich glaube, ich sollte noch ein paar andere (kritische) Rezensionen lesen… Ich habe das mit der angeblichen Verniedlichung von Pädophilie z.B. gar nicht so empfunden, wahrscheinlich weil es für mich klar ist, dass es da keine Sexualisierung von Seiten Tobys gibt, weil er ja klar homosexuell ist. Aber ich kann mir schon vorstellen, dass ein konservativer Mensch das Ganze schon anrüchig findet.
Auf Amazon (US) waren da einige…
Da stöber ich nachher mal…