„Es ist vergeblich, sich an die Vergangenheit zu erinnern, wenn sie nicht einen gewissen Einfluss auf die Gegenwart ausübt.“ (Seite 7, Zitat von Charles Dickens, David Copperfield)
Demon Copperhead ist eine Neuerzählung von Charles Dickens’ Roman David Copperfield (den ich übrigens noch nicht gelesen habe). Statt im Viktorianischen England ist die Handlung bei Barbara Kingsolver in der Gegenwart und in Lee County im äußersten Südwesten des Bundesstaates Virginia angesiedelt. Lee County ist eines der ärmsten Countys der USA.
Hier wächst Damon Fields auf, der von (fast) allen Demon genannt wird. Seine Mutter war bei seiner Geburt 18 Jahre alt, ist drogenabhängig und lebt in einem Trailer. Demons Vater – Copperhead – ist tot. Mehr Familie gibt es anscheinend nicht, wobei sich die Nachbarn Mr und Mrs Peggot viel um Demon kümmern, ihm Kleidung und Essen besorgen, ihn erziehen, eine Art Ersatzfamilie sind.
Demon wächst somit unter widrigsten Bedingungen auf: Armut, Vernachlässigung, Parentifizierung, Gewalt, Entwürdigung, Drogenkonsum. Als sich seine Mutter nach einer Überdosis in eine längere Behandlung begeben muss, wird Demon auf die Farm von Mr Crickson geschickt, der Kinder bei sich aufnimmt.
Bereits die erste Seite hat mich vollkommen in Beschlag genommen, mich nach Lee County versetzt, mich mitten ins Elend von Demons Kindheit geschleudert. Ich empfand den Roman durchweg als authentisch und mitreißend, die Sprache Kingsolvers ist dabei stets passend, macht die Welt von Demon spürbar und erlebbar.
Kingsolver erzählt von den Hürden in Demons Leben, seinem Abrutschen und seinem Leiden, aber auch von Resilienz und von Ressourcen. Dies führt dazu, dass ich beim Lesen sehr berührt wurde von Demon, dass ich seinen Wunsch nach und gleichzeitig seine Angst vor Nähe nachvollziehen konnte, dass ich viel Wärme für ihn empfunden habe, immer wieder gehofft habe, dass er es schafft, den Teufelskreis zu durchbrechen, immer wieder Sorge hatte, dass er es nicht schafft.
Ich habe schon länger kein so dickes Buch gelesen, weil ich finde, dass das immer ein gewisses Commitment ist, zumal ich stets 5-8 Bücher parallel lese. Die Lektüre von Demon Copperfield war aber so tragisch und gleichzeitig humorvoll, so packend und bewegend, dass ich es schlichtweg großartig fand, so lange und so tief in Demons Geschichte abzutauchen. Die mehr als 850 Seiten lassen sich schnell wegschmökern, und am Ende war ich traurig, dass es schon vorbei ist – ich hätte problemlos noch ein paar hundert Seiten mehr lesen können.
Ein düsterer, atmosphärischer, glaubwürdiger, schockierender, schwarzhumoriger Roman, der zu meinen Lieblingsbüchern 2024 zählt.
Barbara Kingsolver: Demon Copperhead. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. dtv, 2024, 864 Seiten; 26 Euro.