„Eine Legende entstand; sie dampfte und köchelte im Herbst des Jahres 1797, des fünften der neuen Republik, und bis ins Frühjahr des darauffolgenden Jahres in jedem Topf des Distrikts. Der Terror war vorüber, der König war tot, und das Leben kehrte – insbesondere in der Provinz – zur Normalität zurück. Die Menschen brauchten ein Geheimnis in ihrem Leben, den Glauben an etwas Unerklärliches, Wunderbares, und viele von ihnen – Pilzsammler und Trüffelsucher, Eichhörnchenjäger und Bauern, gebeugt unter der Last von Reisigbündeln oder Körben voller Zwiebeln und Rüben – hielten im Wald die Augen offen, doch erst im nächsten Frühjahr wurde der Junge erneut gesehen, […], und diesmal verfolgten sie ihn. Sie jagten ihn, ohne nachzudenken, ohne einen Grund, sie jagten ihn, weil er vor ihnen davonrannte.“ (Track 2)
Im Jahre 1797 wurde das „wilde Kind“ erstmals in Südfrankreich gesichtet. Mehrmals wurde der nackte Junge, der sich mehr wie ein Tier und weniger wie ein Mensch verhält, gefangen genommen, mehrmals konnte er fliehen.
1800 beginnt schließlich die Odyssee des Jungen, der später als Viktor von Aveyron in die Geschichte eingehen wird. Er wird von mehreren Personen in Pflege genommen, jedoch bald wieder weitergereicht.
Schließlich gelangt er in die Obhut des jungen Arztes Itard, der der Erste zu sein scheint, der versucht, sich in den Jungen hinein zu versetzen, der verstehen will, was dieser fühlt, wie er die Welt erlebt, wieso er reagiert oder auf vieles nicht reagiert.
Ich liebe die Bücher von T.C. Boyle, interessiere mich für Geschichten wie die von Kaspar Hauser und habe Das wilde Kind schon vor vielen Jahren gelesen. Nun habe ich mir die ungekürzte Lesung von Boris Aljinović angehört, die mich – genau wie das Buch vor vielen Jahren – sehr gefangen genommen und begeistert hat.
Auf wenigen Seiten bzw. in wenigen Hörminuten gelingt es Boyle, die Zeit des endenden 18. Jahrhunderts und beginnenden 19. Jahrhunderts auferstehen zu lassen. Er beschreibt eindringlich und glaubwürdig das Misstrauen gegenüber Fremden, das oft unmenschliche, wenig am Individuum interessierte wissenschaftliche Interesse, die abergläubischen Überzeugungen sowie die Grundannahmen der Philosophie Lockes und Rousseaus.
Das wilde Kind liest und hört sich schnell und unterhaltsam, überzeugt dabei durch Tiefe und Faktenreichtum.
Mich hat die Geschichte auch nach so vielen Jahren nochmals begeistert, und ich empfinde sie als perfekten Einstieg in Boyles Werk, wenn man erst einmal einen kurzen Band in die Hand nehmen möchte.
T. C. Boyle: Das wilde Kind. Aus dem amerikanischen Englisch von Dirk van Gunsteren. Ungekürzte Lesung von Boris Aljinović. der Hörverlag, 2010; 11,95 Euro.