„Jedes Leben richtet sich an jemanden, und insofern – und nur insofern – ist es ein sinnvolles Leben, wenn auch den Sinn des Lebens selbst völlige Finsternis umgibt.“ (Imre Kertész)
Die Drachs leben in einem vollgestopften Haus am Ortsrand, das Lilly Drach von ihren Eltern geerbt hat. Hier wächst August auf – mit einem gewalttätigen Vater, der ihn körperlich missbraucht und verbal abwertet, mit einer Mutter, die August nicht vor dem Vater schützt, die sich aber nach den Gewaltausbrüchen des Vaters um ihn kümmert, ihm Kompott kocht und ihm vorliest.
Als der Vater von heute auf morgen verschwindet, wendet sich Augusts Leben kurz zum Positiven, er blüht auf, spielt mit anderen Jungen. Doch von seiner Mutter erhält er in dieser Zeit keinerlei Zärtlichkeiten mehr:
„Es schien, als wären die Gesten ohne Anlass, ohne Not unmöglich geworden, als gäbe es das eine nicht ohne das andere, den Verband nicht ohne die Wunde.“ (Seite 44)
Dann bekommt August Fieber und einen hartnäckigen Husten, und seiner Mutter ist es wieder möglich, ihre Zuneigung zu zeigen, sie umsorgt ihn, kümmert sich, pflegt ihn. Das Ganze wird schließlich zum Selbstläufer: Die Mutter gibt August Medikamente, um ihn müde und krank zu machen, genießt die Aufmerksamkeit der anderen Dorfbewohner, die sie wegen ihres kranken Sohns bemitleiden, wegen ihres Einsatzes für ihn loben und wertschätzen.
Der erste Teil des Romans behandelt Augusts Kindheit, der zweite Teil sein Erwachsenenleben, in dem die Folgen seiner Kindheit deutlich werden.
Dies war mein erster Roman von Valerie Fritsch, und ich habe ihn gelesen, weil mich das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom sehr interessiert.
Mich hat dieser düstere Roman, der in eleganter Sprache verfasst wurde, sehr gegeistert und beeindruckt. Trotz der Kürze des Romans gelingt Fritsch eine extrem genaue, umfassende, überzeugende und dichte Charakterisierung der Figuren. Die Beweggründe der Mutter und die Auswirkungen auf August empfand ich als psychologisch überzeugend und realistisch, und so fand ich auch den zweiten Teil des Romans stimmig.
Zitronen ist zudem ein sehr atmosphärischer Roman. Man sieht all die beschriebenen Dinge vor Augen, riecht den Staub in der Luft, und vor allem spürt man die Hilflosigkeit Augusts, seine Angst vor dem Vater, die Verzweiflung der Mutter, die nicht weiß, wie Nähe, Geborgenheit und Liebe ohne Krankheit und Schwäche funktionieren:
„So geisterte sie um August herum, wusste nicht, wie sie einem Kind, dem es gutging, auch eine gute Mutter sein sollte.“ (Seite 73)
Beim Lesen baut sich eine enorme Spannung auf, und man hofft im zweiten Teil, August finde sein Glück und möge es bewahren. Man ahnt aber schon, dass er sich aus den Fesseln seiner Kindheit nur schwer wird lösen können.
Ein Lieblingsroman 2024!
Valerie Fritsch: Zitronen. Suhrkamp Verlag, 2024, 186 Seiten; 24 Euro.