Der Tag, an dem ich diesen Text schrieb, war der 26. April 2020, an dem sich die Katastrophe von Tschernobyl zum 34. Mal jährte, und in einem Monat sollte es wieder auf Reisen gehen in die Ukraine – in die „Sperrzone“.
Da der Corona-Virus die Welt gerade in Schockstarre hält, glaube ich inzwischen nicht mehr an ein diesjähriges Wiedersehen mit meiner lieben Babuschka M. in Kupovatoye – eine der Einsiedler, welche in ihre nach dem Super-GAU evakuierten Dörfer zurück gekehrt sind. Sie ist einer der Gründe, weshalb es mich immer wieder an diesen Ort zieht.
Es begann vor drei Jahren, als ich mit einer Freundin die erste „Abenteuer-Tour“ über ein erfahrenes Berliner Reiseunternehmen gebucht hatte. Eine Busreise in kleiner Gruppe von maximal 15 Leuten, inklusive einem Tagestrip nach Kiew und einer mehrtägigen Fototour in die Sperrzone, den evakuierten und gesperrten 30-km-Umkreis um den Unglücksort.
Der Tag in Kiew hatte bei weitem nicht ausgereicht – ein weiterer Grund, noch einige Male diese schöne und zugleich geschichtsträchtige Stadt zu besuchen.
Angekommen am Checkpoint Dytjatky (dem Tor zur Sperrzone, ca. 110 km nördlich von Kiew), wurden uns die strengen Richtlinien, welche man in diesem Gebiet einzuhalten hat, nochmals mitgeteilt. U.a. sind lange Kleidung (Hosen, Langarm-Shirts und/oder -Jacken) sowie festes Schuhwerk Pflicht. Man darf nichts berühren, abstellen oder gar mitnehmen; in der Natur nicht rauchen, essen und trinken, um eine Aufnahme von radioaktiv belasteten Staubkörnchen zu verhindern.
Wir haben Dosimeter erhalten, die durchgehend die radioaktive Strahlung messen und durch ein lautes, ansteigendes Piepen vor sogenannten „Hotspots“ warnen – größtenteils sind diese Spots jedoch soundso auffällig beschildert, und die jeweiligen Guides der Gruppen bestens geschult. Meist ist die natürliche Hintergrundstrahlung in Tschernobyl ganz normal und unter dem Wert, den ich an manchen Orten in meiner erzgebirgischen Heimat messe.
Wir waren als Erstes bei den bereits erwähnten Einsiedlern (auch Samosely genannt), welche inoffiziell in ihre Dörfer zurück gekehrt sind und dort von der Regierung bis an ihr Lebensende geduldet werden. M. und ihr Ehemann haben uns ihren kleinen Hof gezeigt und mit diversen traditionellen Speisen und Getränken herzlich empfangen.
Wir haben sie mit Lebensmitteln unterstützt und in der Gruppe etwas Geld gesammelt, sie bekommen nur eine kleine Rente und sind über externe Hilfe sehr dankbar.
Nun war ich schon drei Mal bei ihnen, M.s Ehemann ist inzwischen verstorben und auf dem kleinen, ca. 200 m entfernten Friedhof begraben. M. lebt jetzt allein und freut sich jedes Mal sehr, wenn wir sie besuchen. M. kann sich unsere Namen gut merken, führt Tagebuch darüber und hat auch mich gleich wieder erkannt. Durch losen Kontakt zu örtlichen Guides und einer Reiseunternehmerin aus Italien freue ich mich über jede noch so kleine Nachricht und kann sie gegebenenfalls aus der Ferne unterstützen. Manchmal beneide ich die Samosely, ihr größtenteils autarkes Leben in nahezu völliger Einsamkeit, ohne den Lärm und die Probleme der „modernen Welt“.
Weitere Punkte unserer Reise waren die 1970 erbaute Stadt Prypjat mit ihren Kindergärten, Schulen, Wohnblöcken, einem Krankenhaus, einer großen Fabrik, Schwimmhalle, Stadion, Musikschule, Klavierladen, Supermarkt, Kulturhaus, riesigen Gewächshäusern und weiteren Plätzen, die von der Natur mehr oder weniger schnell verdrängt werden.
Wir waren u.a. in Dörfern nah an der Grenze zu Weißrussland, an einer stillgelegten Fischfarm, am Kranhafen, mehreren Ferienlagern, bei den nicht fertiggestellten Kühltürmen, an der imposanten Duga-Radarstation und schließlich im Kraftwerk selbst, wo wir unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen einer sehr informativen Führung beiwohnen durften.
Da sich die Sperrzone über ein riesiges Gebiet erstreckt, ist jede Tour einzigartig. Die Jahreszeiten laden dazu ein, diesen Ort mehrfach zu besuchen. Während man sich im Sommer wie im dichten Dschungel fühlt, erkennt man die Stadt und Plätze im Winter um einiges besser, hier kommt eine regelrechte Endzeit-Stimmung auf.
Untergebracht waren wir in einem einfachen Hotel und Hostel in Tschernobyl, hier mussten wir uns an die nächtliche Ausgangssperre halten, denn dieses Gebiet ist immer noch militärischer Sicherheitsbereich.
Nachts haben wir die wilden Hunde jaulen und kämpfen gehört, welche auch tagsüber immer wieder unseren Weg kreuzten und sich auf das ein oder andere Leckerli freuten.
Auch wenn nach der Evakuierung 1986 viele Haustiere getötet wurden, so haben doch einige flüchten können und sich der Sperrzone über Generationen gut angepasst. Neben Hunden und Katzen haben wir Füchse, Hasen, Wild und Przewalski-Pferde gesehen (letztere wurden ausgewildert und haben sich über die Jahrzehnte erholt und durchgesetzt).
Inzwischen – motiviert durch die amerikanische Mini-Serie Chernobyl – strömen immer mehr Neugierige in die Sperrzone. Nicht jeder begegnet ihr mit dem nötigen Respekt. Leider gibt es immer mehr Unbelehrbare, die die historischen Gebäude mit Graffitis beschmieren, Dinge zerstören oder für das perfekte Instagram-Foto umdekorieren und jede Menge Müll hinterlassen. Hierdurch können zudem Brände verursacht werden, die sich in auf unwegsamem Gelände unberechenbar ausbreiten, wie auch dieses Jahr wieder besonders stark.
Es gibt aber auch die respektvollen Interessierten, die sich mit dem entsetzlichen Unglück auseinandersetzen und persönliche Erinnerungen an diese schreckliche Zeit im Frühjahr 1986 haben, zu diesen Personen zähle ich mich und werde alles mir Mögliche tun, diesen mahnenden Ort zu erhalten, wie er ist. Es gibt Ukrainer, Polen, Deutsche, Italiener, Engländer und andere, die sich für den Erhalt der Sperrzone einsetzen, ich danke ihnen aufrichtig.
Meine Video-Empfehlungen:
https://www.youtube.com/watch?v=mnOp-FHtP2s
https://www.youtube.com/watch?time_continue=1&v=8ujAG_Ofj4M&feature=emb_logo
https://vimeo.com/18427727
https://www.youtube.com/watch?v=LO8onTmX1NQ
Meine Buch-Empfehlungen:
Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft von Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch
Midnight in Chernobyl. The Untold Story of the World’s Greatest Nuclear Disaster von Adam Higginbotham (Deutsch: Mitternacht in Tschernobyl)
Chernobyl 01:23:40. The Incredible True Story of the World’s Worst Nuclear Disaster von Andrew Leatherbarrow
Tschernobyl. Expeditionen in ein verlorenes Land. Katalog zur Ausstellung im Augustinermuseum von Städtische Museen Freiburg (Hrsg.)
Störfall von Christa Wolf
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Dieser Post ist Teil meines Radioaktivität-Monatsthemas im Mai 2020.
Sehr eindrucksvoll geschrieben und einzigartige Fotos!
Finde ich auch! Freu mich sehr, dass Mandy Zeit und Lust auf den Beitrag hatte. Liebe Grüße!