„Schon öfters hatte ich gesagt, dass ich lieber sterben als Weiterleben möchte. In Wirklichkeit möchte ich tatsächlich lieber weiterleben, aber unter anderen Bedingungen.“ (Seite 63)
Nach dem Tod seines Vaters setzt sich Dominik Riedo ausführlich mit der Pädophilie seines Vaters auseinander, zeichnet durch Tagebucheinträge und Briefe des Vaters, psychiatrische Gutachten, Polizei- und Gerichtsprotokolle und Zeitschriftenartikel sowie eigene Beobachtungen und Erfahrungen im Zusammenleben und im Alltag mit dem Vater ein komplexes Bild von ihm und seinen pädophilen Neigungen.
Im Rahmen meines Psychologiestudiums habe ich mich schon intensiv mit sogenannten sexuellen Paraphilien beschäftigt, doch mit Pädophilie im Vergleich eher weniger, obgleich ich vor 25 Jahren bei einer Tätigkeit in der forensischen Psychiatrie mit Tätern gearbeitet habe.
Riedo erzählt anhand unterschiedlicher Quellen von der Kindheit des Vaters, der früh emotionale Nähe vermisst und Ausgrenzung erfahren hat, von Heimerfahrung und Leben auf dem Hof des Großvaters, von seiner Lehre als Bäcker/Konditor, seiner Arbeit als Büroangestellter und Lehrer, von U-Haft und Gerichtsprozess, von Heirat und dem Versuch, dadurch „geheilt“ zu werden, von seiner Zeit in Thailand und schließlich vom Nachgeben und dem Ausleben seiner Neigungen.
Nur das Leben war dann anders zeigt eine eher unbekannte Seite der Pädophilie, da sie hier von mehreren Seiten und mit angemessener Komplexität betrachtet wird. Das kann man mögen oder nicht mögen, ablehnen oder akzeptieren, doch wichtig ist eine solche Betrachtung allemal.
Was mich etwas gestört hat, ist die Tatsache, dass vor allem die Schilderungen des Sohnes über weite Strecken hinweg recht unstrukturiert auf mich gewirkt haben, auch wenn sich das im Verlauf schließlich gegeben hat. Auch empfand ich die Sprache des Sohnes oft als unnötig ordinär, und immer wieder habe ich mir die Frage gestellt, ob man so persönliche Gedanken und Gefühle posthum veröffentlichen darf, denn was hier über den Vater preisgegeben wird, ist sehr intim.
Durch die verschiedenen Perspektiven gelingt Riedo ein einzigartiger Blick auf einen Menschen mit Pädophilie, wobei die Ausführungen des Sohnes immer wieder zwischen Verständnis und Ekel, Ablehnung und Annäherung wechseln. Durch die Schilderungen des Vaters ist man beim Lesen sehr nah an dessen Neigungen, Sehnsüchten und Wünschen – das muss man aushalten können, so dass die Lektüre inhaltlich nicht immer leicht zu verdauen ist.
Ich empfehle das Buch aufgrund expliziter Schilderungen eher nicht für Opfer pädophiler Handlungen und auch nicht für nicht-betroffene Personen, die für eine schnelle Lösung für die Bestrafung/Unschädlichmachung von Menschen mit pädophilen Neigungen plädieren, aber für alle, die sich mit der Komplexität des Themas auseinandersetzen wollen und können.
Dominik Riedo: Nur das Leben war dann anders. Nekrolog auf meinen pädophilen Vater. Psychosozial-Verlag, 2019, 177 Seiten; 19,90 Euro.