Nacht in Caracas von Karina Sainz Borgo

„Beim Aufsetzen ihrer Grabinschrift begriff ich, dass sich der Tod als Erstes in der Sprache vollzieht, in diesem Akt, die Personen aus der Gegenwart zu reißen und in die Vergangenheit zu pflanzen. Sie in abgeschlossene Handlungen zu verwandeln. In Dinge, die in einer erloschenen Zeit begannen und endeten. In etwas, was war und nicht mehr sein wird.“ (Seite 7f)

Mit dem Tod ihrer Mutter verliert Adelaida Falcón ihre wichtigste Bezugsperson und ihren sicheren Hafen mitten in der Unsicherheit, die Venezuela seit Jahren bietet.

Ihr Land und ihre Heimat hat Adelaida schon lange verloren, seit Entführungen, Überfälle, Vergewaltigungen und Inflation an der Tagesordnung in Caracas sind, und schließlich verliert sie auch die Wohnung, in der sie aufgewachsen ist und die voller Erinnerungen an ihre Mutter steckt, an eine Gruppe von Frauen, die ihre Wohnung besetzen und verwüsten, geliebte Erinnerungsstücke zerstören und Adelaida zwingen, ihren einzigen Zufluchtsort aufzugeben.

Adelaida sieht nur eine Möglichkeit, dem unerträglichen und unsicheren Leben in Caracas zu entkommen, doch dies erfordert, dass sie das Einzige aufgibt, was ihr noch geblieben ist.

Nacht in Caracas ist in ebenso anspruchsvoller wie leichtfüßiger Sprache geschrieben, und meine erste Befürchtung, dass es sich um einen zu metaphernlastigen Text handelt, hat sich bereits auf der zweiten Seite zerstreut.

Der Debütroman von Karina Sainz Borgo, die selbst aus Caracas stammt, aber seit mehr als zwölf Jahren in Spanien lebt, erzählt abwechselnd von Adelaidas Kindheit und vom Leben nach dem Tod der Mutter. Dieser Wechsel der Zeitebenen zeigt das Leben in Venezuela in zwei verschiedenen Epochen, klärt so über die politische/historische Lage des Landes auf und macht deutlich, was Adelaida bzw. die Venezolaner im Allgemeinen verloren haben.

Sainz Borgo schafft es mühelos, dem Leser den Alltag im Venezuela der Neuzeit nahezubringen, und diese Einblicke in die katastrophale Versorgungslage, den allgegenwärtigen Tod, die Hinrichtungs- und Foltermethoden sind oft schwer auszuhalten. Doch so erscheint Caracas vor dem inneren Auge, und die eindringlichen Beschreibungen machen es möglich, dass man sich als Leser das Leben und Überleben in der Stadt, die Angst und die Gräuel, die Verzweiflung und die Ausweglosigkeit genau vorstellen kann.

Ich empfand Nacht in Caracas als starkes Stück Literatur, das bewegt und fasziniert, aber auch informiert, und ich wünsche mir, dass es nicht bei diesem einen Roman von Sainz Borgo bleibt, sondern dass wir in Zukunft mehr von ihr lesen dürfen.

Karina Sainz Borgo: Nacht in Caracas. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. S. Fischer, 2019, 220 Seiten; 21 Euro.

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