„[…] natürlich ist es eine Chance, denn in jedem Verlust liegt auch eine Erleichterung, stell dir vor, du kommst eines Tages nach Hause, und alles ist gestohlen, buchstäblich alles, du besitzt nichts mehr, es lohnt sich noch nicht einmal, aufzuzählen, was du nicht mehr hast. Ganz plötzlich werden deine Gedanken ruhig, du spürst eine tiefe Gelassenheit, fast so etwas wie Gnade, und du verstehst auf einmal, daß es keinen Kampf mehr gibt, weil es sinnlos geworden ist, zu kämpfen, daß du nachgeben mußt, weil du keine Wahl hast, du verlierst alles, aber du gewinnst eine tiefe Gelassenheit.“
Na’ama und Udi sind seit beinahe 25 Jahren, seit ihrem 12. Lebensjahr, ein Paar, haben ein gemeinsames Kind, die fast 10-jährige Noga, doch nun droht ihre Ehe zu zerbrechen. Sie sind gefangen in einem Teufelskreis aus Beschuldigungen, Schuldgefühlen und Kritik. Udi reagiert auf ihre Partnerschaftsprobleme mit einer Konversionsstörung – an einem Tag ist er plötzlich gelähmt, an einem anderen blind. Als Na’ama eine junge Heilerin um Hilfe bittet, entwickelt sich die Beziehung schließlich in eine ungeahnte und unerhoffte Richtung.
Ich habe Mann und Frau zum ersten Mal vor 15 Jahren gelesen, mir hatte die Lektüre damals zwar gut gefallen, mich aber nicht so sehr berührt und bewegt wie Liebesleben. Vor fünf Jahren habe ich Mann und Frau erneut gelesen und war diesmal absolut begeistert.
Zeruya Shalev ist eine begnadete Beobachterin, der es gelingt, Personen, Handlungen, Situationen, Erinnerungen und Gefühle so detailliert, lebendig und realistisch zu beschreiben, dass man das Gefühl hat, selbst emotional involviert zu sein. Der Roman hat mich stellenweise so mitgerissen, dass ich mich wie die Protagonistin Na’ama gefühlt habe, die gefangen ist in ihrer Beziehung und die nicht weiß, wie sie sich verhalten soll, was sie fühlt, wie sie den Teufelskreis aus Beschuldigungen und Verletzungen durchbrechen kann. Diese Fähigkeit Shalevs beeindruckte mich bereits bei Liebesleben und führt dazu, dass man sich voll und ganz mit ihren Protagonisten identifizieren kann und muss – ob man will oder nicht.
Zeruya Shalev: Mann und Frau. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Taschenbuch Verlag, 2002, 400 Seiten; 9,99 Euro.
Dieser Post ist Teil des Monatsthemas „Psychische Störungen“ im Februar 2019.