„Alles hat Bedeutung da draußen, ich muss sie nur finden.“ (Seite 68)
Kompass ohne Norden ist keine fiktive Geschichte, sondern basiert auf der Krankheitsgeschichte von Brendan, Neal Shustermans Sohn, der im Alter von 15 Jahren an einer schizoaffektiven Psychose erkrankte.
Anhand des Hauptprotagonisten Caden Bosch (Brendans Alter Ego) zeigt Shusterman, wie sich die Symptome seines Sohnes entwickelten, wie sie sich im Verlauf veränderten, wie die Behandlung bei seinem neunwöchigen Klinikaufenthalt aussah, welche Auswirkung die medikamentöse Behandlung hatte.
Caden lebt in einer furchteinflößenden Welt: Monster sind in seinen Geist eingedrungen, haben Bilder herausgerissen und daraus Masken gemacht, so dass sie wie die Menschen aussehen, die Caden liebt. Sie lachen über ihn, sprechen über ihn, und sie sorgen dafür, dass Caden seine Umgebung als feindselig und bedrohlich empfindet, nicht mehr weiß, wem er trauen kann, sich immer mehr verschließt.
Shusterman berichtet von Misstrauen, Angst, Beziehungsideen, Wahn, Halluzinationen, Ich-Störungen, formalen Denkstörungen, sozialem Rückzug, Desorganisiertheit, vom Verwischen der Grenzen zwischen Realität und Fiktion – und von der Fahrt auf einem Schiff, vom Kapitän und einem Papagei, von der Mannschaft und vom Aufbruch ins Challengertief.
Shusterman erzählt die Geschichte um Caden in einfacher Sprache und in kurzen Kapiteln, so dass sich das Buch schnell liest, obwohl es vor allem anfangs sehr kryptisch, mysteriös und undurchsichtig ist – so wie die Schizophrenie selbst, in die man sich als Nicht-Betroffener oft schwer einfühlen kann, und in der man als Betroffener verzweifelt versucht, den beängstigenden, unverständlichen Geschehnissen Sinn zu verleihen, sie zu verstehen, sie in Einklang mit der restlichen Welt zu bringen.
Ich empfand Kompass ohne Norden als überwältigend authentisch, gerade durch diese geheimnisvollen Passagen, die lange unverständlich bleiben und bis zum Ende nicht ganz durchschaut werden können. Die Ausführungen Shustermans haben mich oft verwirrt, doch genau das macht den Reiz und den einzigartigen Wert des Buches aus, mit dessen Hilfe man sich in die Gedanken- und Gefühlswelt eines Menschen begeben kann, der an Schizophrenie erkrankt ist. Dabei finde ich es erstaunlich, wie sehr sich Vater und Sohn über die Symptome ausgetauscht haben müssen, denn Shusterman beschreibt die Welt seines Sohnes so glaubwürdig und so lebendig, als handele es sich um seine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen.
Der engste Freund des Autors, der auch an Schizophrenie erkrankt war, hat sich 20 Jahre vor dem Erscheinen des Buches suizidiert. Shusterman erzählt in Kompass ohne Norden eine optimistischere Geschichte, so dass er hier gewissermaßen zwei mögliche Verläufe einer schizophrenen Erkrankung gegenüberstellt. Ich bin dankbar für Shustermans Optimismus und dafür, dass er diese erfolgreiche Krankengeschichte mit den Lesern teilt und so einen hoffnungsvolleren Umgang mit der Diagnose möglich macht.
Shusterman ist ein hochemotionales, ergreifendes, intensives Buch gelungen, das tiefste Einblicke in die Psychopathologie und Phänomenologie der Schizophrenie gewährt und damit so wertvoll ist, dass ich das Buch jedem empfehle, der besser verstehen will, was kaum verstehbar ist.
„Unsere Hoffnung ist es, dass ‚Kompass ohne Norden‘ all jene trösten kann, die in den Tiefen gewesen sind, indem es sie wissen lässt, dass sie nicht allein sind. Wir hoffen außerdem, dass es auch anderen helfen kann […] zu verstehen, wie es tatsächlich ist, die finsteren, unberechenbaren Gewässer der psychischen Krankheit zu befahren.
Wenn der Abgrund in dich hineinschaut – und das wird er -, mögest du den Blick unerschrocken erwidern.“ (Seite 8)
Neal Shusterman: Kompass ohne Norden. Mit Illustrationen von Brendan Shusterman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Carl Hanser Verlag, 2018, 335 Seiten; 19 Euro.
Dieser Post ist Teil des Monatsthemas „Psychische Störungen“ im Februar 2019.