Geschichte eines Verschwindens von Hisham Matar

„Alles, was ich geliebt und verloren hatte, war einmal hier gewesen. Und jetzt kam ich in die Abwesenheit. Nichts war mehr da.“

1971 lernt Nuri in Agami bei Alexandria eine junge Frau kennen, die er bewundert und für die er schwärmt – und die schließlich Nuris Vater, der zwei Jahre zuvor Witwer geworden ist, heiratet. Nuri wird an ein englisches Internat geschickt, wo er sich einsam fühlt und wo er über seine Verluste – der frühe Tod der Mutter, die unerfüllte Liebe zu seiner Stiefmutter Mona – grübelt.

Ein Jahr später verschwindet der Vater des nun 14-jährigen Nuri unter mysteriösen Umständen aus einer Genfer Wohnung. Nuri ist davon überzeugt, dass der libysche Geheimdienst hinter der Entführung steckt, hat hierfür jedoch keinen Beweis. Nuri macht sich verzweifelt auf die Suche nach Spuren seines Vaters, nach dessen Vergangenheit und nach seiner eigenen Geschichte.

Ich hatte vor der Lektüre bereits Im Land der Männer mit viel Begeisterung gelesen und hatte große Erwartungen an Geschichte eines Verschwindens. Diese wurden nicht enttäuscht, obwohl ich aufgrund des Buchtitels eine ganz andere Geschichte erwartet hatte.

Geschichte eines Verschwindens zeigt durch die unterschiedlichen Zeitebenen und den häufigen Wechsel der Handlungsorte die Zerrissenheit von Nuri, dessen Leben sich nicht nur zwischen Orient und Okzident abspielt, sondern der zudem viele Verluste und frühe Entbehrungen zu beklagen hat. Dabei sind diese traumatischen Ereignisse und Begebenheiten oft durch Unwissenheit gekennzeichnet – Unwissenheit, woran die Mutter gestorben ist, Unwissenheit über die Vergangenheit des Vaters, Unwissenheit darüber, wohin und von wem der Vater verschleppt wurde, wo er sich befindet, ob er noch am Leben ist, ob er irgendwann zurückkehren wird.

Auf weniger als 200 Seiten gelingt Hisham Matar eine komplexe und glaubhafte Schilderung einer Kindheit und Jugend, wobei der Autor die Emotionen der Protagonisten und die Beziehungen zwischen ihnen so authentisch und lebensnah beschreibt, dass man nach der Lektüre tief bewegt von der Geschichte und beeindruckt von Matars schriftstellerischer Fähigkeit ist.

Hisham Matar: Geschichte eines Verschwindens. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. btb, 2013, 192 Seiten; 9,99 Euro.

Dieser Post ist Teil des Maghreb-Monatsthemas im April 2022.

Dazu hab ich auch was zu sagen!