„Wir waren Wissenschaftler, keine Moralisten. Unsere Pflicht war es, zu beobachten und aufzuzeichnen, ohne ein Urteil zu fällen.“ (CD 3, Track 12)
Alfred Kinsey war ein US-amerikanischer Sexualforscher, der umfängliche Erhebungen und Untersuchungen über das menschliche Sexualverhalten durchführte. Diese Datensammlung floss in die sogenannten Kinsey-Reports, die 1948 („Sexual Behavior in the Human Male“) und 1953 („Sexual Behavior in the Human Female“) im englischen Original erschienen und als ein Auslöser der Sexuellen Revolution gelten.
Diesem Thema widmet sich T.C. Boyle in seinem zehnten Roman, der bereits 2005 im englischen Original (The Inner Circle) und im gleichen Jahr in deutscher Übersetzung erschien.
Wie vom Autor gewohnt, vermischt Boyle hier eine wahre Geschichte mit einem fiktionalen Anteil. Erzählt wird die Geschichte von John Milk, der 1939 in sogenannten Ehekursen auf den charismatischen Professor Kinsey trifft, schließlich für ihn arbeitet und so in den inneren Kreis des Wissenschaftlers aufgenommen wird.
Milk ist involviert in Kinseys Großprojekt, die sexuellen Biografien von 100.000 US-Amerikanern zu sammeln. Kinsey erwartet von seinen Mitarbeitern nicht nur vollen Einsatz beim Führen der Interviews, sondern auch, dass sie ihre eigene Sexualität ohne Kompromisse und ohne Scham ausleben.
Ich habe schon einige Bücher von Boyle gelesen und zähle ihn zu meinen Lieblingsautoren. Dr. Sex hat mir gut gefallen, und ich kann mir gut vorstellen, nach dem gekürzten Hörbuch, das auf ebenso angenehme wie packende Weise von Jan Josef Liefers gelesen wird, auch noch das Buch zu lesen.
Mich hat Dr. Sex oft an Das Licht von Boyle erinnert, vielleicht weil es in beiden Büchern um einen charismatischen Universitätsprofessor geht, der mit unkonventionellen Methoden Wissenschaft betreibt und so eine Gruppe von Jüngern um sich schart, die ihn verehren und regelrecht anbeten, für ihn Grenzen überschreiten und schließlich auch ihr Privatleben aufs Spiel setzen.
Boyles porträtiert in Dr. Sex die Doppelmoral im Amerika der 1930er bis 1950er Jahre. Dabei dreht sich alles im Roman um geheime Wünsche, sexuelle Erfahrungen und Erlebnisse sowie Treue und Eifersucht.
Wie immer erzählt Boyle eine stimmige, bisweilen skurrile Geschichte, ist amüsant und weiß zu unterhalten. Und nebenbei erhält man zudem Einblicke in historische Begebenheiten. Tolle Sache!
T.C. Boyle: Dr. Sex. Übersetzt von Dirk van Gunsteren. Gekürzte Lesung mit Jan Josef Liefers. der Hörverlag, 2005; 10,95 Euro.
Dieser Post ist Teil meines Monatsthemas „Sex und Gewalt“ im Dezember 2020.