„Was bleibt von einem Manne, der sein Leben verloren hat?“
Im Jahre 1958 sollte Boris Leonidowitsch Pasternak der Nobelpreis für Literatur verliehen werden, doch aufgrund des enormen Drucks der sowjetischen Regierung auf und einer Hetzkampagne gegen den Schriftsteller lehnte Pasternak den Preis ab. Dennoch wurde er aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen und bis zu seinem Tod im Jahre 1960 isoliert. Der Roman Doktor Schiwago erschien in der Sowjetunion erst im Jahre 1988, also 28 Jahre nach Pasternaks Tod.
Im Zentrum des Romans stehen Juri Andrejewitsch Schiwago und seine Geliebte Lara Guichard. Juri wächst nach dem Tod seiner Mutter und dem Suizid seines Vaters zuerst bei seinem Onkel, dann bei einer Pflegefamilie auf. In späteren Jahren studiert er Medizin, obwohl seine Leidenschaft die Lyrik ist, und heiratet Tonja, die Tochter seiner Pflegeeltern.
Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges arbeitet Juri an der Front, wo er im Lazarett die charismatische Lara Antipowa kennenlernt, die sich freiwillig als Krankenschwester gemeldet hat, um ihren Mann Pawel Antipow zu suchen.
Juri und Lara verlieben sich ineinander, doch werden durch den Krieg wieder voneinander getrennt.
Ich zähle russische Autoren des 19. Jahrhunderts wie Lew Tolstoi, Fjodor Dostojewski und Alexander Puschkin zu meinen Lieblingsschriftstellern und habe mich schon intensiv mit Russland/der Sowjetunion und der Geschichte des Landes beschäftigt. Pasternak als Vertreter der russischen/sowjetischen Literatur des 20. Jahrhunderts stand schon lange auf meiner Lese-To-do-Liste, und durch das Hörbuch zu Doktor Schiwago habe ich nun endlich einen Einblick in Pasternaks Werk erhalten.
Mir hat Doktor Schiwago sehr gut gefallen, obgleich ich finde, dass Pasternaks Erzähl- und Schreibstil hinter dem Talent eines Tolstoi, Dostojewski oder Puschkin zurückbleibt.
Wie auch bei den russischen Autoren des 19. Jahrhunderts dreht sich in Doktor Schiwago viel um Liebe, Tod und Leidenschaft. Doktor Schiwago ist ein tragisches Werk, das sprachlich opulent ist und bei dem die Schilderungen der Emotionen immer haarscharf am Kitsch vorbeiziehen. Ich finde dies recht typisch für russische Literatur, und obwohl ich sonst nichts für Schwülstigkeit übrig habe, gefällt mir gerade dies bei russischen Autoren besonders gut, weil es meist authentisch wirkt und überzeugend ist.
Sehr deutlich zu spüren sind die Einflüsse aus der Philosophie und der Geschichte Russlands – und damit die Einflüsse aus Pasternaks eigenem Leben, die hier klar ins Werk eingeflossen sind.
Das Hörbuch wurde großartig gelesen und wirkt durch die gelegentlichen Musikeinspielungen und die wechselnden Leser sehr lebendig. Meiner Meinung nach kommen dem Hörer Kenntnisse über das zaristische Russland, die Oktoberrevolution und die Sowjetunion sehr zugute, da man so die Geschichte um Juri und Lara sowie die persönliche Entwicklung Juris besser einordnen und verstehen kann.
Boris Leonidowitsch Pasternak: Doktor Schiwago. Übersetzt von Reinhold von Walter. Gelesen von Gert Westphal, Ludwig Cremer, Joana Maria Gorvin und Bernhard Minetti. der Hörverlag, 2014; 19,99 Euro.