„Vor allem morgens, wenn der Tag beginnt und die Menschen an unserer fleckenlos polierten Scheibe vorbeieilen, genieße ich meine Arbeit in dem hell erleuchteten Glaskasten. Um diese Zeit erwacht die Welt, und ihre Zahnräder setzen sich in Bewegung. Eines dieser Rädchen bin ich, und ich drehe mich immerfort.“
Die Ich-Erzählerin Keiko Furukura, bereits als Kind sonderbar, etwas verhaltensauffällig und ohne rechtes Gespür für Interaktionen mit anderen Kindern oder mit Erwachsenen, hat auch im späteren Leben kaum Sozialkontakte, ist wenig kompetent im Umgang mit ihren Mitmenschen und ist am liebsten allein.
Als sie während ihrer Studentenzeit zufällig an einem Konbini, einem Convenience Store, vorbeikommt und sieht, dass der Laden Mitarbeiter sucht, bewirbt sie sich für die Stelle.
Es gibt im Laden viele Regeln, so wird Keiko z.B. geschult, wie sie mit Kunden umgehen und wie sie lächeln soll, aber Keiko findet bei der Arbeit ihre Erfüllung:
„Zum ersten Mal war es mir gelungen, am normalen Leben teilzunehmen. Als wäre ich gerade erst geboren worden. Mein erster Tag im Konbini war mein Geburtstag als normales Mitglied der Gesellschaft.“
Einhundertsiebenundfünfzigtausendsiebenhundertachtzig Stunden später arbeitet sie immer noch im Konbini. All die Leute, die damals mit ihr im Laden begonnen hatten, arbeiten schon längst nicht mehr da, und auch die Filialleiter haben schon mehrmals gewechselt. Selbst die Produkte wurden mit den Jahren ausgetauscht.
Nur Keiko ist nach wie vor da.
Sayaka Murata – 1979 in Chiba, Japan, geboren und selbst Mitarbeiterin in einem Konbini – wurde bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet, und ihr Roman Die Ladenhüterin gewann 2016 gar den renommiertesten Literaturpreis Japans, den Akutagawa-Preis.
Bereits der Einstieg ins Buch hat mir sehr gut gefallen, denn Murata fängt hier die einzelnen Geräusche im Konbini ein und erzeugt beim Leser dadurch sofort eine Vorstellung davon, wie es dort zugeht, was in den Regalen zu finden ist und woraus Keikos Arbeit besteht.
Auch der weitere Verlauf dieses knappen Romans hat mir gut gefallen, denn trotz der Kürze gelingt es Murata ausgezeichnet, die Keiko eingängig zu beschreiben. Der Leser lernt mit ihr eine Person kennen, die nicht weiß, wie sie in sozialen Gefügen funktionieren soll, die sich erst im Konbini zurecht und ihren Platz in der Welt findet, denn dies ist der Ort, an dem alles vorgeschrieben ist, wo sie deshalb weiß, wie sie agieren und interagieren muss.
Murata findet einfache Worte für ihre überzeugende Charakterstudie und vermag es so, durchweg zu fesseln, da sich das Buch schnell und unkompliziert liest, inhaltlich jedoch packend und psychologisch überzeugend ist. Die Autorin stellt damit nicht nur eine Frau vor, die lediglich durch das Kopieren von Kollegen und Bekannten und durch starke Struktur existiert und sich bedeutsam findet, sondern bietet mit ihrem Roman zudem einen Einblick in die japanische Gesellschaft mit ihren Traditionen und Geschlechterrollen, ihren Erwartungen und ihren Vorurteilen. Sie zeigt außerdem, dass ein Leben, das – von außen betrachtet – verarmt und leer wirkt, für einen Menschen das einzig lebbare Leben sein kann, in dem man sogar so etwas wie Erfüllung und Glück zu finden vermag.
Sayaka Murata: Die Ladenhüterin. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Aufbau Verlag, 2018, 145 Seiten; 13,99 Euro (Kindle Edition) bzw. 18 Euro (gebundene Ausgabe).
Dieser Post ist Teil des Japan-Themas im April 2018.
Ein Gedanke zu „Die Ladenhüterin von Sayaka Murata“