„Es ist das Phänomen, dass Menschen, aus welchen Gründen auch immer, ungeachtet der verfügbaren Fakten und gegen jede Wahrscheinlichkeit, mit unerschütterlicher Gewissheit auf ihren Überzeugungen beharren.“
Philipp Sterzer erzählt in seinem Buch von bistabilen Rhythmen und Kippfiguren, deskriptiven und normativen Überzeugungen, unerschütterlichen Meinungen und Wahn, Grad der Gewissheit und Evidenz, rationalen und irrationalen Begründungen, Konsistenzprinzip und epistemischer Rationalität, Religion und Verschwörungstheorien, Halo-Effekt und emotionaler Beweisführung, konzeptionellem Konservatismus und Confirmation Bias, Schizophrenie und Vulnerabilitäts-Stress-Modell, proximaten und ultimaten Ursachen, Evolutionstheorie und Selektionsvorteil, evolutionärem Paradoxon der Schizophrenie und Kontinuitätshypothese der Schizophrenie, Fehlermanagementtheorie und Fitness, innerem Modell und Vorhersagefehler, Bottom-up und Top-down, Predictive-Processing-Theorie und Hohlmaskenillusion, Sakkaden und Mismatch Negativity, Dopamin und abberanter Salienz, Rauchmelderprinzip und Scherbolzenprinzip, Unsicherheitstoleranz und Corona-Pandemie.
Ich arbeite im Bereich der Psychosenpsychotherapie und beschäftige mich schon seit Jahrzehnten mit Psychosen, z.B. habe ich einen Forschungshintergrund in ähnlichen Bereichen, die Sterzer in seinem Buch anspricht, so dass ich einerseits ein sehr großes Interesse am Thema hatte, andererseits natürlich auch schon viel Vorwissen habe, auch durch mein Psychologiestudium. Dennoch habe ich hier sehr viel Neues gelernt, bereits vorhandenes Wissen ergänzen, aber auch etwas besser sortieren und einordnen können.
Sterzer berichtet fundiert und sachlich, trotzdem ist das Buch richtig spritzig und unterhaltsam geschrieben, macht Spaß, ist humorvoll, selbstironisch und so verständlich, dass meiner Meinung nach auch Laien gut folgen können.
Sterzer bietet in seinem Buch viele spannende und hilfreiche Beispiele und Gedankenexperimente, und obwohl ich mich schon intensiv mit Wahrnehmungsverzerrungen, kognitiven Fehlern, Heuristiken und Wahn beschäftigt habe, war das Buch eine große Bereicherung für mich und konnte mir Inhalte so anschaulich vermitteln, dass ich diese auch in meine Arbeit im Bereich der Psychosenpsychotherapie einfließen lassen werde.
Sterzer wiederholt in seinem Buch bereits erläuterte Inhalte immer wieder. Dies könnte man redundant und unnötig finden, ich persönlich fand das sehr gelungen, da er den Leser so immer wieder an die wichtigsten Aspekte seiner Argumentation etc. erinnert und neue Information geschickt in bereits Gelesenes einfügt, so dass man beim Lesen immer wieder automatisch des Gelesene wiederholt und ohne Mühe dazulernt. Gerade für Einsteiger ins Thema finde ich das sehr hilfreich.
Gefallen hat mir auch der Einstieg mit den ausführlichen Fallgeschichten, die im Buch immer wieder aufgegriffen werden. Diese zeigen die Komplexität des Themas und die Schwierigkeit, wahnhaftes Erleben von realen Bedrohungen zu unterscheiden, was ich auch kenne (wie sicher alle Behandler von Psychoseerfahrenen).
Neben dem Buch habe ich auch das Hörbuch gehört, das von Alexander Gamnitzer eingelesen wurde. Insgesamt hat mir Gamnitzers Interpretation des Textes gefallen, doch ich persönlich fand sein Lesen etwas zu langsam, aber das mag vor allem an meinem wissenschaftlichen Hintergrund und an der Tatsache, dass mir vieles im Buch bereits geläufig war, liegen.
Philipp Sterzer: Die Illusion der Vernunft. Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten. Ullstein, 2022, 320 Seiten; 23,99 Euro.
Philipp Sterzer: Die Illusion der Vernunft. Warum wir von unseren Überzeugungen nicht zu überzeugt sein sollten. Ungekürzte Lesung von Alexander Gamnitzer. Lagato Verlag, 2022; 17,90 Euro.